Lang lebe Lichtenberg

Publikationen zum Lichtenberg-Jahr

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur Goethes, auch Georg Christoph Lichtenbergs wird heuer gedacht. Am 24. Februar 1999 jährte sich sein Todestag zum 200. Mal. Doch anders als im Falle Goethes sind aus diesem Anlaß auch nicht annähernd so viele nennenswerte Neuerscheinungen zu verzeichnen.

In fünfter Auflage (32. bis 33. Tsd.) ist im Januar 1999 die Lichtenberg-Bildmonographie von Wolfgang Promies neu herausgekommen. Die Erstausgabe datiert allerdings bis ins Jahr 1964 zurück. Doch der schmale Band gibt noch immer einen guten Überblick über Lichtenbergs Schaffen, enthält zahlreiche, zum großen Teil zeitgenössische Abbildungen aus Lichtenbergs Lebenswelt, Kupferstiche, Schriftproben, Abbildungen der sogenannten ›Lichtenbergschen Figuren‹, sowie eine Bibliographie mit weiterführenden Literatur-Hinweisen.

Ferner hat Wolfgang Promies bei Hanser den Band "Lichtenbergs Hogarth" herausgegeben, der - erstmals vollständig - Georg Christoph Lichtenbergs Kalenderfassungen seiner Erklärungen von William Hogarths Kupferstichen versammelt. Erstmals sind hier auch die Abbildungen des Freundes und Kupferstechers Ernst Ludwig Riepenhausen (1765 - 1840) vollständig wiedergegeben [leider lag uns der Band bei Redaktionsschluß noch nicht vor].

Ulrich Joost versammelt unter dem Titel "Ihre Hand. Ihren Mund. Nächstens Mehr" Lichtenbergs Briefe von 1765 bis 1799. Der Band stellt eine Auswahl der vierbändigen Briefedition dar, die zwischen 1983 und 1992 bei C. H. Beck erschienen ist. Herrliche, mitunter verstiegene, anspielungs- und geistreiche, häufig manierierte, immer gewitzte Briefe, die in Göttingen gern herumgereicht worden sind. Der Band von Ulrich Joost bietet einen circa hundertseitigen Anhang mit Erläuterungen, einem Stellenkommentar, einem Nachwort mit einer Konkordanz zur großen Briefausgabe, ferner eine chronologische Übersicht der Lebensdaten.

Von besonderem Reiz ist die Lichtenberg-Auswahl Robert Gernhardts, ein persönliches Destillat des Frankfurter Künstlers und Schriftstellers. Im Nachwort erzählt Gernhardt von der Schwierigkeit erzählt, einen repräsentativen Querschnitt aus dem Œuvre Lichtenbergs zu ziehen. Noch heute leuchtet die Polemik Kurt Tucholskys gegen Ernst Vincent ein, der in seiner Auswahl von 1932 den großen Aufklärer zum Großschriftsteller verklären wollte. Lichtenberg war aber nun mal kein "Baumeister großer Werke", kein "Langstreckenautor", sondern ein Brocken-, Schnitzel- und Sudelblattverfasser - aber als solcher hatte er es in sich. Lichtenberg "demaskiert", so Gernhardt, und löst durch "simplen Blickwechsel" die "Scheuklappen des Eurozentrismus" auf: "Der Amerikaner, der Columbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung." Die Sudelbucheinträge sind bildhaft und von vorbildlicher Kürze. Sie belegen die Anschaulichkeit und Produktivität eines sehr eigenen Skeptizismus. Gernhardt hebt die "bis heute anhaltende Frische" und die fast körperlich spürbare Konkretheit der Sudelbücher hervor, er lobt, daß Lichtenberg "so gut wie alles für aufschreibenswert hielt, was seinen Körper betraf oder ihm durch den Kopf ging". Hier ist Lichtenberg so modern wie Montaigne. Seine Ansichten haben oft die anschauliche Kraft eines Bildwitzes, und so rechnet Gernhardt ihn auch zu den "verhinderten Cartoonisten".

1992 hat Robert Gernhardt begonnen, Lichtenbergs "Sudelbücher" systematisch nach "Fundstellen" zu durchmessen, die sich zu Cartoons verarbeiten lassen. "99 Sudelblätter zu 99 Sudelsprüchen" sind jetzt unter dem Titel der Fundstelle D244 veröffentlicht worden: "Unsere Erde ist vielleicht ein Weibchen". Gernhardt zeichnet eine männliche Sonne, die die Erde mit einem Sonnenstrahl kitzelt. Alle Sudelstellen, die der Zeichner umgesetzt hat, sind kurz und prägnant: "Was ist der Mensch anders als ein kleiner Staat, der von Tollköpfen beherrscht wird pp?" (Fundstelle E 60) Oder: "Kirchtürme, umgekehrte Trichter, das Gebet in den Himmel zu leiten." (Undatierbare Bemerkungen 8) Oder: "Man hat vieles über die ersten Menschen gedichtet, es sollte es auch einmal jemand mit den beiden letzten versuchen." (Fundstelle J 679)

Maßgabe für Gernhardts Lichtenberg-Illustrationen scheint zu sein, daß der Cartoon den Sudelspruch nicht nur wiederholen darf, sondern seine eigene Semantik, seinen eigenen Bildwitz entfalten muß. Es geht ihm offenbar darum, eine allzu naheliegende Redundanz von Wort und Bild zu vermeiden. Bild und Wort sollen einander erweitern, sich neue Bedeutungen und Perspektiven eröffnen. Den "tragischen Hanswurst" etwa (F 1177) illustriert er als Hamlet. Den Spruch "Wir bilden uns oft etwas auf Leute ein, die sich unserer schämen würden" (F 164), setzt er so um, daß er vor dem Weimarer Goethe und Schiller-Denkmal drei bizarre Deutsche gruppiert. Dies ist nicht nur im Goethejahr ein trefflicher Witz, sondern referiert auch auf das Gernhardtsche Œuvre, etwa auf den Besinnungsaufsatz "Goethe und Schiller" aus dem Gemeinschaftswerk von Gernhardt, Waechter und Weigle "Die Wahrheit über Arnold Hau" (1966).

Eine Variante des schöpferischen ›Mehrwerts‹ ergibt sich, wenn Gernhardt Lichtenberg bewußt falsch versteht, um daraus Bildwitz zu schlagen: "Man sollte die Krokodile in den Stadtgräben ziehen, um ihnen mehr Festigkeit zu geben." (F 193) Gemeint sind natürlich die mittelalterlichen Befestigungsanlagen, die durch die Aufzucht von Krokodilen verstärkt werden sollen. Der komische Zeichner aber verfestigt die Krokodile zu leblosen Fässern und Baumstämmen.

Vielfach setzt Gernhardt auf eine tradierte Ikonographie und zieht berühmte Bilder der Kunstgeschichte sowie Stereotypen der christlichen Ikonographie zur Illustration heran. Lichtenbergs Wort vom Gott als dem "Vergelder alles Guten" (J 994) setzt er so um, daß er den freigebigen ›Haste mal ne Mark‹-Passanten in den sixtinischen Himmel versetzt, wo er als Adam die Kohle tausendfach erstattet bekommt. Es sind meist sehr geläufige Bild- und Bildungszitate (hier: Michelangelos "Erschaffung Adams"), die einen zusätzlichen Bedeutungshorizont eröffnen und dem Cartoon eine schöne Fallhöhe verpassen. Der von Bernini genial in Marmor gehauene Daphne-Mythos oder Giorgiones "Anbetung der Hirten" sind weitere Bildspender.

Der Gegenwartsbezug ist auf fast allen Bildern spürbar: "Wer eine Scheibe an seine Garten-Tür malt, dem wird gewiß hineingeschossen." (J 614) Die Scheibe ist bei Gernhardt eine Zielscheibe, die Namen am Gartentor lauten auf G. Grass, B. Strauß, W. Jens auf der linken, A. Schwarzer, G. Höhler, Rosa von P. auf der rechten Seite. Rosa von Praunheims Klingelschild auf der Damenseite anzubringen, ist natürlich eine zusätzliche Perfidie des Zeichners. Ein weiteres Beispiel interpretierender Zeichnung ist die Fundstelle D 59. Lichtenberg schlägt hier ein hohes Pathos an: Es sollte eine Uhr geben, sagt er, die uns daran erinnert, daß wir bloß ›Menschen‹ sind. Diese Uhr wird in Gernhardts durchtriebener Visualisierung auf eine Kuckucksuhr, der pathetische ›Mensch‹ auf eine Schnapsdrossel reduziert. Da die Zeichnung einer Uhr allein tautologisch wäre, steuert Gernhardt weitere Bildelemente bei, die die verrinnende Zeit deutlich werden lassen: Eine Flasche wird geleert, ein Mann abgefüllt. So "voll" ist er, daß er in diesem Zustand vermutlich ungern an sein ›Menschsein‹ erinnert würde - und faktisch nicht erinnert wird: Die Stunde schlägt voll, die Flasche ist leer, der Mann ist ›auf Null‹ gebracht.

Auf eine wohlfeile Moral wird hier, wie generell, verzichtet. Doch ideenreich und faszinierend ist diese Auslegung Lichtenbergscher Sudelsprüche in jedem Fall, weil sie über die "schlichte Bebilderung" oder die begleitende Interpretation hinausgeht. In seiner Sudelblatt-Serie hat Gernhardt einen ganz neuen, ganz eigenen ›Erweiterungstyp‹ von Interpretation geschaffen, der auf den Interpreten zurückverweist: Die Differenz zwischen dem reinen Text Lichtenbergs und der zeichnerischen Begleitspur Gernhardts signalisiert dem aufmerksamen Betrachter die Originalität des Zeichners. Jede dieser Bildfindungen geht über Lichtenberg hinaus. Wäre Lichtenberg dennoch mit ihnen einverstanden? Vermutlich schon, denn Lichtenberg war selber ein begeisterter Interpret. Er hat Hogarths Kupferstiche bzw. Radierungen mit einer poetischen Wortspur begleitet, sie regelrecht mit Erzählungen, die von Hogarths Genie künden, illustriert. Jetzt macht es Gernhardt genau umgekehrt: Er zeichnet eine Begleitspur zu Einträgen aus Lichtenbergs Sudelbrevier, die vom Genie des großen Aufklärers erzählen.

Zum Schluß noch eine Warnung: In der Leipziger Reclam-Bibliothek ist ein "Lichtenberg-ABC" von Frank Schäfer (vgl. "literaturkritik.de" Nr. 1, Februar 1999) erschienen. Schäfer möchte nach dem Wörterbuch-Prinzip lexikalische Einträge zu den wichtigsten Lichtenberg-Themen herstellen, die teils aus Originalzitaten bestehen, teils aus dem kulturellen Wissen bestückt sind. Über das Denk- und Literatursystem der Aufklärung weiß Schäfer jedoch zu wenig, so daß die begriffliche Klärung und die Einbettung in den zeitlichen Kontext oft am Wesentlichen vorbeigehen. Zum Ausgleich übt sich Schäfer im Stile übertriebener Witzigkeit, was zu grotesken Umständlichkeiten seiner - leider - begrenzten Formulierungskunst führt. Zurecht hat Walter Benjamin auf den "großartigen Lakonismus" und die Lichtenbergsche "Sachlichkeit" hingewiesen, die dem Witz des Aufklärers Relief und Schärfe gibt. Statt Schärfe haben wir hier Schäfer: Jemand hat Vergnügen an Lichtenberg - das ist schön. Schöner wäre es, wenn das im Privaten bliebe.

Titelbild

Georg Christoph Lichtenberg: Krokodile im Stadtgraben. Ausgewählt von Robert Gernhard.
Insel Verlag, Frankfurt 1998.
324 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3458169245

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Wolfgang Promies (Hg.): Lichtenbergs Hogarth.
Carl Hanser Verlag, München 1999.
360 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3446189408

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch