Recherche in den Kinderschuhen

Reclams elektronisches Lexikon der deutschen Literatur

Von Gustav MechlenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gustav Mechlenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bevor einmal alles übers Internet erreichbar sein wird, gibt es zunächst alles auf CD-Rom. Das teilweise schon Wirklichkeit gewordene Zukunftsszenario, wichtige Nachschlagewerke online zugänglich zu haben, besticht durch die Möglichkeit andauernder Aktualisierung. Solange wir aber noch nicht ständig und überall flatline sind und die Angebote kostenpflichtig, sind wir auf das Zwischenreich zwischen Buch und Web angewiesen. Was aber ist der Vorteil eines CD-Rom-Lexikons gegenüber einem gedruckten? Für manchen könnte er einfach darin bestehen, Platz zu sparen. Beispielsweise im Laptop auf Reisen. Für andere ist die direkte Kopierbarkeit der Einträge in andere Texte oder deren Ausdruckbarkeit ein Fortschritt. Doch was den eigentlichen Mehrgewinn des digitalen Mediums angeht, die Hyperlinks und die Multimedialität, stecken die meisten wissenschaftlichen Silberlinge immer noch in den Kinderschuhen.

So leider auch das vom Reclam Verlag herausgegebene elektronische Lexikon der deutschen Literatur. Es ist schlicht in der Aufmachung und hat ein einfaches Layout mit eindeutiger, einfacher Navigation. Die Texte sind in langweiliger Type ohne Absätze durchgeschrieben. Von Bildern oder Tönen keine Spur. Das werden zwar nur die wenigsten bei einem Literaturlexikon vermissen, dennoch ist es schade, da sich gerade darin die CD-Rom von der Druckversion unterscheiden könnte. Das entscheidende Kriterium aber für die Arbeit am Computer ist die Interaktivität. Doch auch hier bleibt das elektronische Lexikon hinter seinen Möglichkeiten zurück. Die Verweise sind auf ein Minimum reduziert. Bei so manchem Begriff oder Namen würde man gerne direkt einen Link finden, muss das Wort aber erst in die Suchmaske eingeben, um dann umständlich in den einzelnen Einträgen danach zu suchen.

Immerhin hat der Herausgeber Volker Meid zwei Lexika miteinander verbunden: ein Sachlexikon zur deutschen Literatur und ein Lexikon deutscher Autoren. Im einen Lexikon sind Kurzbiografien und Werkverzeichnisse zu über 900 Autorinnen und Autoren des deutschen Sprachraums von den Anfängen bis zur Gegenwart enthalten. Im anderen rund 1.000 Sachartikel zu Gattungen, Epochen, Begriffen, Methoden und Institutionen der deutschen Literatur. Durch Hyperlinks kann der Benutzer innerhalb eines oder zwischen den Lexika hin- und herspringen. Etwa um Fremdwörter oder germanistische Fachtermini aus dem Autorentext nachzuschlagen. Oder um von einem Sach- oder Genre-Eintrag zu einem einschlägigen Vertreter der gesuchten literarischen Gattung zu klicken. Das ist nicht nur hilfreich, sondern weckt auch den Spieltrieb, der einen dazu veranlasst, vom hundertsten zum tausendsten Artikel weiterzuklicken, bis man das Gefühl hat, die gesamte Geschichte der deutschen Literatur in ein paar wenigen Stunden überblickt zu haben.

Möglich ist das auf Grund der klaren Navigation und der Kürze der Beiträge ("in gebotener lexikalischer Knappheit"), die einen "schnellen Überblick zu allen Fragen rund um die deutsche Literatur" geben sollen. Besonders hilfreich ist die Funktion der Volltextsuche, mit der alle Begriffe in den beiden Lexika direkt gefunden werden können. So lässt sich neben Autoren, Titeln, Gattungen beispielsweise auch nach mehr oder weniger abwegigen Schlagwörtern oder Städtenamen suchen. Dass Export- und Druckfunktionen vorhanden sind, gehört inzwischen zum Standard. Desweiteren wird, ebenfalls üblich, ein Notizbuch angeboten. Wobei der Sinn dieser Funktion wohl nicht erschließbar ist, da dem Computernutzer sowieso genug Text-Dateien zur Verfügung stehen.

Der Herausgeber Volker Meid hat sich bereits mit der "Metzler Literatur-Chronik", dem "Sachwörterbuch zur deutschen Literatur" und dem "Sachlexikon Literatur" als Lexikograf einen Namen gemacht hat. Seine Texte sind knapp und beschränken sich auf Wesentliches, was der Arbeit am Bildschirm entgegenkommt. Expliziter Wertungen enthält er sich weitestgehend. In einer eigenen Rubrik sind löblicherweise Literaturhinweise vermerkt, auf die sich der Autor bei seiner Recherche gestützt hat.

Die Auswahl ist wie immer bei überschaubaren Lexika kritikwürdig. Meid hat die wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen und Autoren aufgeführt. Berücksichtigt wurden Schriftsteller ab dem Mittelalter - einschließlich der lateinischen Dichtungstradition - bis zur Gegenwart, wobei der Schwerpunkt deutlich auf dem ausgehenden 19. und dem 20. Jahrhundert liegt. Dass bei einem Lexikon, das bis zum Jahr 2002 reicht, allerdings kein einziger Eintrag zur Popliteratur, geschweige denn zu deren Vertretern vorkommt, ist mehr als ärgerlich.

Ein Beispiel zum Schluss. Im Eintrag zu Wolfgang Borchert zeigt Meid, was Germanistik alles kann: "Die formal vielfältigen Kurzgeschichten folgen mit ihrer lakonischen, lapidaren Sprache der zeitgenössischen Forderung nach einer konsequenten Vereinfachung der stilistischen Mittel, handeln von Außenseitern im Krieg und in der Trümmerlandschaft der Großstadt der Nachkriegszeit, thematisieren Gegensätze und Spannungen wie Krieg und Frieden, Ausgesetztsein und Sehnsucht nach Heimat, Freundschaft und Einsamkeit, Menschlichkeit und Überlebenswillen." Da ist alles drin, was man für eine gute Deutschklausur benötigt.

Titelbild

Volker Meid: Reclams elektronisches Lexikon der deutschen Literatur. CD-Rom.
Reclam Verlag, Stuttgart 2002.
24,90 EUR.
ISBN-10: 315100220X

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