Sprechen und Handeln

Uwe Pörksens Plädoyer für die politische Rede

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den Merkwürdigkeiten einer sich als "postmodern" missverstehenden politischen Situation mit all ihren Unwägbarkeiten gehört sicher auch die Beobachtung, dass einerseits ihre u. a. durch veränderte mediale Kommunikation bedingte Genese alle "alten" Formen überholt und ersetzt hat, andererseits gerade die "neuen" Medien nichts mehr verlangen als die permanente Begleitung der politischen Entwicklung durch die üblichen Reden, Statements, Erklärungen usw. So hat die Jahrtausende alte Rhetorik neueren Fachbüchern zufolge "nicht nur Rede-, sondern auch schriftliche Darstellungsformen - wie die gesamte nichtbelletristische Sach- und Fachliteratur und praktisch sämtliche journalistische Textsorten" erobert und sogar "jene 'neuen', durch die audiovisuellen Medien übermittelten Prozesse" (Clemens Ottmers, Rhetorik, Stuttgart 1996) lassen sich mit Vorbehalten hierzu zählen. Es bleibt also durchaus zu fragen, wo bei diesen Veränderungen das Politische geblieben ist, das ja bekanntlich eine Entscheidung auf Leben und Tod implizieren kann und offensichtlich in den TV-Inszenierungen nicht mehr plastisch erkennbar ist.

Vorliegender Essay des emeritierten Freiburger Germanisten Uwe Pörksen geht von der Frage nach dem Verlust des Politischen aus und stellt die These auf, dass es am ehesten in einer Wiederbelebung der öffentlichen Rede neu gewonnen werden könne. Ein nostalgisches Verkennen der medialen Veränderungen oder überschwengliche "déformation professionelle" eines den Elfenbeinturm verlassenden Gelehrten? Mitnichten! Bereits die Formulierungen zur Problemstellung zeigen, dass Pörksen über eine wohlüberlegte, aus genauer Beobachtung der Tendenzen innerhalb der Politik gewonnene Theorie verfügt, die vor allem den Verlust der Autonomie, oder des "Selbststands", wie der Autor mit Leibniz sagt, des Politischen hervorhebt. Es sind neun Bereiche, die Pörksen als Haupttäter ausmacht, darunter zentral die Wirtschaft, Medien und Wissenschaft/Technik, punktuell immer wieder auch die Demoskopie. Tritt der Politiker vor eine Kamera, werden Nebensächlichkeiten entscheidend und muss Komplexität auf zwei Sätze banalisiert werden. Jammert die Wirtschaft "Standortnachteile", schnurren alle Versuche des Interessenausgleichs auf ein Programm zur Bedienung von Firmeninteressen zusammen. Wissenschaft und Technik formulieren permanent quasi naturgeschichtliche Zukunftsentwürfe, die alternative Entscheidungsmöglichkeiten gar nicht erst in den Blickwinkel rücken. Nimmt man noch den deformierenden Einfluss der Parteien hinzu, sind die wichtigsten Faktoren genannt, die nach Pörksen dafür sorgen, dass der eigentlich autonome Bereich des Politischen öffentlich nicht mehr sichtbar, identifizierbar und damit ein wesentlicher Garant demokratischer Kultur gefährdet ist. Denn die sich wichtig machenden Grundformeln von Wirtschaft ("mehr"), Medien ("aktuell") und Technik ("neu") können nicht per se die des Politischen sein: "Die Grundkategorien der politischen Sphäre sind anders orientiert. An der Spitze der Rangordnung steht der Schutz des individuellen und gemeinen Wohls; er ist jenem Zeitimperativ, jenem Bewegungsimperativ übergeordnet. Nicht, ob etwas fortschrittlich, neu, schneller machbar ist, ist die politisch vorrangige Kategorie, sondern ob es zuträglich, haltbar, vernünftig und beherrschbar ist, ob die Regeln des Zusammenlebens stimmen."

In einer solchen Situation sieht Pörksen die Chancen einer freien Rede, die in der Lage sei, das Politische wieder öffentlich zur Geltung zu bringen. Wiewohl gegenüber dem allgegenwärtigen Goliath "Bild" eher in der Rolle des David, beinhaltet eine gute, wirkungsvolle Rede mehr als das neumedial geforderte "Kurzgebell". Rhetorik stellt seit der Antike nicht nur Techniken des Überredens bereit, sondern ist gleichzeitig vor allem in der politischen Entscheidungsrede auch eine zur Willensbildung eminent notwendige Findekunst. Ihr Hauptmerkmal sieht Pörksen in der Diskussion der einer Rede zugrundeliegenden These, in der auch Gegenpositionen und Einwürfe aufgenommen und widerlegt werden müssen. Am Beispiel zweier aktueller Reden führt der Autor dies detailliert vor: Während der Schriftsteller Uwe Grüning in den Zeiten des Untergangs der DDR eine "vollkommen freie Rede" gehalten habe, bleibe Erhard Eppler bei seiner Rede zwei Wochen nach dem 11. September 2001 vor der Grundwertekommission der SPD, "zweifellos bewußt, auf halbem Weg stehen", ohne gewisse Bauelemente, die erst eine Rede zur politischen Handlung werden lassen, einzusetzen.

Ein weiteres Kapitel des knapp und verständlich verfassten Buches zeigt prägnant an einer entscheidenden Parlamentsrede Bismarcks und einer brillanten Rede seines Gegenspielers Ferdinand Lasalle zur Verfassungswirklichkeit, wie die dialektische Findekunst der Rhetorik wirksam werden kann. Jenseits aller medialen Rauchkerzen führe die freie Rede zum Kern der Probleme und weise überzeugende Wege zu einer politischen Handlung. Rhetorik versteht Pörksen "nicht als Wirkungsrhetorik, genauer gesagt, Machterhaltungsrhetorik, sondern als inhaltlich gebundene Politiklehre." Das Plädoyer für die freie Rede ist damit zugleich eines für das Projekt der offenen Demokratie. Ihre Gefährdung sieht der Autor u. a. in den Auswüchsen medialer Inszenierung begründet, in denen aller scheinbaren Offenheit entgegen, teilnehmende Öffentlichkeit und Autonomie des Politischen verlorengeht. Man muss nicht Anhänger eines sozialliberalen Politikverständnisses sein, um in Pörksens überzeugender Rede zur Verteidigung der Rhetorik auch einen überzeugenden Beitrag zur Kritik der politischen Stagnation zu erkennen.

Titelbild

Uwe Pörksen: Die politische Zunge. Eine kurze Kritik der öffentlichen Rede.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002.
160 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3608940553

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