Der Du nicht bist

Die Unfähigkeit zu leben

Von Annika HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Worum ich trauerte, war eine Leere, eine fast nicht vorhandene Kindheitserinnerung. Ich trauerte um mich selbst, die Person, die ich geworden wäre, wenn mit meinem Vater alles gut gegangen wäre. Aber auch um den Fünfjährigen, der ihn gekannt haben musste und an den ich mich nicht erinnerte. Der ebenso verschwunden war wie er."

Der Tod ist nicht das Schlimmste. Für Tomas ist es viel schlimmer, Ungewissheit über den Tod seines Vaters zu haben. Gerade diese Ungewissheit, dieses Nichtvorhandensein seines Vaters, hat sein Leben stärker beeinflusst, als es wohlmöglich ein greifbarer Vater je gekonnt hätte. Seine Mutter hatte seinen Vater nach dessen Verschwinden nie wieder erwähnt, wohl aus Groll darüber, dass er bei seinem Kriegshandwerk geblieben ist, das sie so sehr gehasst hat.

Wie einen Kriminalroman, spannend, aber ohne Mörder und vor allem ohne Leichnam, schildert Carl Henning Wijkmark, geboren 1934 in Stockholm, die Suche nach den Todesumständen eines finnischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Nicht nur Tomas wird von dieser Suche nach Antworten beeinflusst, sondern auch die beiden Menschen, die seinem Vater vor seinem Verschwinden am nächsten standen. Sein bester Freund und Kriegskamerad, der bei seinem Verschwinden dabei war, hat fünfzig Jahre lang über die letzten Minuten mit seinem Freund Schweigen bewahrt, teils aus Schuldgefühlen, teils um die fürchterlichen Erinnerungen zu verdrängen. Da er die Geschichte nie zu Ende erzählt, dauert sie sein ganzes Leben lang und lässt ihn eine Art Todeskult betreiben. Seine Frau, die die Geliebte seines Freundes war, liebt diesen noch immer. Auch sie empfindet eine Schuld für das Verschwinden ihres Geliebten. Das Ehepaar verstrickt sich aufgrung ihrer Schuldgefühle in gegenseitigem Schweigen, dabei hätte ihr jeweils partielles Wissen um die Umstände des Verschwindens die Selbstvorwürfe lindern können. Die Ironie bei aller Tragik ihrer Ehe ist, dass sie nur durch des Freundes Verschwinden zusammengekommen sind, aber gerade dieser Umstand eine unüberbrückbare Distanz in ihre Beziehung bringt.

Fünfzig Jahre später besucht Tomas das Ehepaar, um seinem Vater endlich eine Identität geben zu können, die durch das Schweigen seiner Mutter nur im Totsein bestand. Die Gespräche zwischen den Dreien pendeln zwischen Offenheit und Inszenierung, Erleichterung und Schuld. Tomas kommt seinem Vater bis zur Identifizierung nahe und findet ein Stück zu sich selbst. Dabei kommentiert der Autor durch Tomas jede Gefühlsregung, jeden ausgesprochenen Gedanken, auf bestechend einleuchtende und präzise Art. Mit unglaublichem Feingefühl und Emphatie forscht Tomas nach seinen Wurzeln. So geleitet durch die Köpfe der Figuren, erlangt der Leser tiefe Einblicke in ihr moralisches Drama. Trotzdem lässt Wijkmark Raum für eigene Interpretationen, indem er viele Fragen der Personen offen lässt und durch die klar gezeichnete Gefühlsebene nur mögliche Antworten offeriert. Am Ende wird deutlich, dass weniger die Auflösung des Rätsels im Mittelpunkt steht als vielmehr die Charakterzeichnung und das Interagieren der Figuren. Die Kriminalgeschichte gibt nur noch einen Rahmen für die Figuren.

Letztlich ist es auch ein Buch über die Wirkung von Ausnahmesituationen auf das Leben, besonders in der Zeit danach. Über den Krieg, der den Tod als geflügelten Gott darstellt und über Rivalen, die zu besten Freunden in der allgegenwärtigen Gefahr werden. Die beiden Freunde lieben die gleiche Frau. Aber statt sich zu hassen, nutzen sie ihre Gemeinsamkeit, um über die Geliebte reden zu können. Die Frage, ob eine solche Freundschaft auch im Alltag überleben würde, stellt sich nicht, denn der eine Freund verschwindet im Krieg während der andere die gemeinsame Geliebte heiratet, aber letzten Endes den verschwundenen Freund um dessen Unschuld des Todes beneidet.

Sprachlich wird das Feingefühl, das über den Gesprächen liegt, durch eine ebenso feinfühlige wie bildreiche Sprache umgesetzt. Ein wenig übersteigert wirken jedoch zwanghaft kulivierte Umschreibungen, wie z. B. Alkoholismus als "ein Problem mit der Leber" zu bezeichnen. Bemüht wirkt an einigen Stellen auch die bildhafte Sprache, wo Menschen gegen den Wind "kreuzen", Licht in "Pfützen auf dem Boden liegt" und Geschichten allzu oft "wiedergekäut werden".

Tod oder Selbstmord, Lebenswille oder Todessehnsucht, verzweifelter Liebender oder enttäuschter Freund, verschwunden oder gestorben, das alles bleibt offen. Trotzdem ist die Suche nach dem Verschwundenen erfolgreich: Tomas' Besuch hat das Ehepaar zum Reden über vormals Verschwiegenes bewegt. Beide finden so ihren Frieden und ein Stück zueinander. Er selber findet zwar keine Antwort, kein Grab und keinen Schuldigen, aber er hat nun eine Art physisches Bild von seinem Vater, der nicht auffindbar ist. Der nicht ist, oder besser war.

Wijkmark scheint ein Faible für das Thema Tod zu haben, denn schon sein Roman "Moderner Tod", der ebenfalls 2001 ins Deutsche übersetzt wurde, handelt von der Rolle des Todes in der Gesellschaft. Geht es dort um das Recht auf einen natürlichen Tod, geht es in dem jüngeren Roman um die Frage nach der Verarbeitung des Todes. Da wir nicht wissen können, was nach dem Tod mit unserem Geist passiert, klammern wir uns an das Wissen, wo der Körper des Toten sich befindet. Gibt es auch darüber keine Erkenntnis, wird die Verarbeitung des Todes umso schwieriger. In "Der Du nicht bist" bestimmt der unerklärliche Tod das Leben aller Figuren. Ein vom Tod fremdbestimmtes Leben.

Titelbild

Carl-Henning Wijkmark: Der Du nicht bist. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Klaus Jürgen Liedtke.
Gemini Verlag Diana Kempff, Berlin 2001.
159 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3935978014

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