Der Erzähler als Vermittler

Karl Wagners "Moderne Erzähltheorie" und ihre historische und systematische Entfaltung

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karl Wagner hat, wie es der Untertitel seines Bandes verspricht, echte Grundlagentexte von Henry James bis zu Antonia S. Byatt, insgesamt sechzehn an der Zahl, versammelt, die nicht nur einen Überblick über die historische Entwicklung, sondern auch über die systematische Bandbreite der Erzähltheorie geben. So dient der Band einerseits einem dokumentarischen Interesse, weil er die Texte, die weit verstreut veröffentlicht sind, wieder zusammenführt. Andererseits kann und sollte er auch als Kompendium gelesen werden, das zugleich eine Einführung in die Erzähltheorie darstellt. Ein solcher Sammelband kann natürlich nicht die konzeptionelle Stringenz entfalten, die eine monographische Einführung bieten mag. Es empfiehlt sich daher, den vorliegenden Band parallel zu einer solchen Einführung zu lesen (herausragend und beispielhaft hierfür das Buch von Michael Scheffel und Matias Martinez: Einführung in die Erzähltheorie (2002). Dabei werden dem Leser wichtige Stationen, wie z. B. die bislang am weitesten ausgearbeitete Systematik von Erzählformen bei Gérard Genette, hier wie dort begegnen, und er kann die Verknüpfung zwischen den Originaltexten einer Sammlung und den Konzeptionen einer systematischen Einführung herstellen.

Man darf die Funktion, die solche Sammelbände erfüllen, indem sie Grundlagentexte wieder bereitstellen und leicht zur Verfügung halten, nicht unterschätzen, weil damit eine wesentliche Voraussetzung geschaffen wird, die Diskussion am Laufen zu halten, aber auch neu zu fundieren. Dieser Band ermöglicht den schnellen Rückgriff und die Wiedervergegenwärtigung vielfältiger Diskussionsstränge und überführt somit die historische Dimension einer Debatte in die Systematik der aktuellen Diskussion, ja ermöglicht auch ein Stück weit erst diese Systematik. Zudem bietet der Band auch einen Überblick, wenn vielleicht auch nicht über das gesamte Feld, so doch über ein weites Spektrum dessen, was unter dem Begriff Erzähltheorie firmiert. Wer also genau diese Spanne ermessen will, ist mit dem vorliegenden Sammelband gut bedient. Der Leser kann, wenn er sich das Spektrum der Beiträge vergegenwärtigt, aber auch selbst seinem dadurch gewonnenen Überblick Konturen verleihen.

Der Band besitzt ein ausgezeichnetes Vorwort, in dem der Herausgeber nicht nur auf die literaturwissenschaftliche Bedeutung der Erzähltheorie eingeht, sondern auch die verschiedensten Aspekte, die die einzelnen Beiträge ansprechen, hervorhebt und schwerpunktartig beleuchtet. Er gibt eine sehr prägnante und hilfreiche Zusammenfassung der Beiträge, die sowohl die Orientierung erleichtert, wie auch die Beiträge in den Diskussionszusammenhang einbettet. Gleichzeitig verknüpft er die Modernität der Erzähltheorie mit der Modernität des Erzählens und des Erzählten selbst und weist damit die Erzähltheorie mitsamt ihrem Gegenstand als Moment der literarischen Moderne aus. Vor dem Horizont gesellschaftlicher Modernisierung und Ausdifferenzierung seit dem 18. Jahrhundert sieht er auch jene komplexeren Erzählformen entstehen, die den Reiz und den Gegenstand der Erzähltheorie ausmachen. Daraus entwickeln sich neben literarhistorischen Epochen Erzählmodelle, die ihrerseits als Reflex aus veränderten Rahmenbedingungen zu werten sind. Es entsteht nicht nur der realistische Roman, sondern -nicht nur in seiner Folge - auch seine Infragestellung in erzählerischen Experimenten.

So wird konkret spürbar, was der Verfasser meint, wenn er von der "Persistenz von akuten Problemen des Erzählens und der Erzählbarkeit der Welt" spricht. Im Vordergrund steht die Frage nach der begrifflichen Definition von Erzähltheorie und ihrem Gegenstand und ihrer daraus resultierenden Bedeutung. Erzähltheorie lässt sich so in einem engen und einem weiten Begriff fassen.

Der weite Begriff definiert das Erzählen als dasjenige Verfahren, das den erzählten Text, ja das Erzählte überhaupt erst konstituiert. In diesem Fall tritt vor allem das Verhältnis von Text (insbesondere Roman) und Welt in den Blickpunkt, und Erzähltheorie fragt nach dem Erzählen als Vermittlung, gar als Interaktion von Text und Welt. Wie kommt die Welt in den Text und wie der Text in die Welt? Gemeint sind damit Probleme der Fiktionalität ebenso wie der ideologischen Situierung des Romans. Dabei wird sowohl der Aspekt des Fingierens, der dem Erzählen inhärent ist, herausgehoben als auch das Problem des Realismus auf seine erzählerische Dimension zurückgeführt. Es stellen sich Fragen wie: Was passiert mit der Welt, mit vorgefundener Realität im Erzählvorgang und was kann und was sollte mit ihr passieren?

Der enge Begriff hingegen konzentriert sich auf den Erzähler als Instanz des Erzähltextes und auf jene Formen, in denen sich textintern das Verhältnis von Erzählinstanz und Erzähltem ausdrückt. In dieser engen Fassung ist der Begriff vor allem durch die Arbeiten von Stanzel, Lämmert oder Stierle bekannt geworden. In diesem engen Rahmen entwickelt sich ein ausgeprägtes Kategorien-, Beschreibungs- und Begriffssystem, mit denen sich die Funktionen der einzelnen Formen differenziert bestimmen lassen.

Der Band zeigt in seiner Zusammenstellung sehr schön, wie sich mit dieser Differenzierung in einen weiten und in einen engen Begriff von Erzähltheorie unterschiedliche Traditionen des literaturwissenschaftlichen Umgangs verbinden lassen. Während der weite Begriff eher einer hermeneutischen und ideologiekritischen Tradition zuzurechnen ist, wird der enge Begriff vor allem von strukturalistischen und struktural orientierten Modellen unterstützt.

Die Beiträge von Henry James, Virginia Woolf, Theodor W. Adorno, Heimito von Doderer, Alexander Kluge, Wolfgang Iser, Raymond Federman und Antonia S. Byatt zusammen mit Ignes Sodré lassen sich dem ersten Traditionsstrang zuordnen, die Texte von Viktor Sklovskij (aus dem Umfeld des russischen Formalismus), Michail Bachtin, Roland Barthes, Gérard Genette, Karlheinz Stierle, Barbara Johnson, Franz K. Stanzel und Paul Ricœur eher dem zweiten. Dass diese Traditionslinien nicht völlig getrennt sind oder sein müssen, zeigt ein Text wie der von Sklovskij, der damit repräsentativ für den Russischen Formalismus steht, weil hier Fragen nach den literaturspezifischen Formen des Erzählens (mithin nach der Literarizität des Textes) immer auch in Verbindung mit einer strukturell exakten Textbeschreibung steht, wie sie dann der Strukturalismus auf seine Fahnen geschrieben hat. Daher kann man sagen, dass in der Frage nach der Literarizität des Textes ein Grundproblem auch der Erzähltheorie liegt, weil sich aus der Frage sowohl die weitergehende Frage nach dem Realismus des Erzählens als auch nach der Form des Erzählens ableiten lässt.

Die vier Literaten, die mit ihrem erzähltheoretischen Überlegungen aufgenommen wurden, James, Woolf, Doderer, Byatt, ergänzen diese Fragestellung nach der erzählten Welt durch eine poetologische Dimension. Sie beleuchten, wenn man so will, die produktionsästhetische Seite. Für sie sind, mehr oder weniger deutlich, Fragen der Erzähltheorie zugleich Fragen nach der Möglichkeit des Romans, nach seinen Freiheiten gegenüber formaler oder moralischer Zwänge (James), nach der Möglichkeit, Charaktere zu erfinden und sie der Handlung vorzuordnen (Woolf), nach der Möglichkeit, realistisch zu erzählen (Doderer) und nach dem Bedürfnis erzählter Fiktionen (Byatt).

Dem steht die ideologiekritische Variante von Autoren wie Adorno und Kluge gegenüber, die nun den Realismus des Erzählens als Problem herausheben und gesellschaftsgeschichtlich verorten. Bemerkenswert ist, dass Adorno selbst das Problem des Erzählers als symptomatisch für die Beurteilung des zeitgenössischen Romans einstuft. Er begründet dies damit, dass nur die Abkehr vom realistischen Erzählen dem Roman helfen könne, realistisch zu bleiben, weil der realistische Roman selbst unter den veränderten Bedingungen zu einem Moment der ideologischen Verblendung geworden sei.

Man könnte auch sagen, dass beide Varianten innerhalb dieser Schiene des weiten Begriffs von Erzähltheorie sich komplementär zueinander verhalten, in der Form, wie dies produktionsästhetische und rezeptionsästhetische Perspektiven tun. Beide fragen nach der Möglichkeit des Romans, einerseits aus der Perspektive des Autors, andererseits aus der Perspektive des Ideologiekritikers. So unterschiedlich die Interessenlage auch sein mag - zu erzählen hier, das Erzählen zu emanzipieren dort, oder zugespitzt: fiktionale Realitäten zu schaffen hier, sie zu entideologisieren dort -, beide treffen sich beim Erzähler, weil an ihm beide Fragen komplexe Form gewinnen. Doch damit lässt sich aus dieser Tradition eine erweiterte Perspektive ableiten: So wie der Erzähler zwischen Leser und der erzählten Geschichte vermittelt, so vermittelt er auch zwischen seiner Welt und der des Leser. Ihm wird damit unausweichlich auch die ideologische Verantwortung für seine Verhältnisbestimmung zwischen den Realitäten der Literatur und der Welt aufgebürdet.

Dieser Texttranszendenz steht auf der anderen Seite eine gewisse Textimmanenz der Beschreibungsmodelle gegenüber. Doch so weit ist diese andere Seite nicht entfernt. Auch hier werden die Fragen nach der Gesellschaft und der Realität gestellt; aber deutlich wird doch auch, wie z. B. bei Barthes, dass diese Fragen immer mit Bezug auf Formen des Textes, Strategien seiner Schreibweise oder Strukturen seiner Zeichen gestellt werden. Vereinfacht gesagt: Das Verhältnis von Text und Welt wird am Text selbst abgelesen. Von daher gewinnt die Bestimmung dieser Formen an großer Bedeutung. Wer die Entwicklung strukturaler Modelle kennt, wird sich leichter tun, den Stationen, die der Band aus dieser Tradition abdruckt, folgen zu können. Die systematische Weiterentwicklung bzw. Revision z. B. des Stanzelschen Modells der Erzählsituationen durch Genettes Modell der Stimme oder des Müllerschen Modells des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit durch Paul Ricœur muss der Leser sich selbst erschließen; das kann ein solcher Sammelband auch gar nicht leisten.

Aber der Leser kann sehr wohl einen Einblick in die Vielfalt der Beschreibungsmodelle gewinnen, die sich auf Kategorien wie Instanz, Zeit und Raum, Wissen, Perspektive oder Zuverlässigkeit verteilen. Darüber hinaus wird deutlich, wie eng diese erzähltheoretischen Beschreibungsmodelle zugleich als Kategorien der Textanalyse - also einer grundsätzlichen Erschließung des Textes - und darüber hinausgehend der Textinterpretation - also einer Sinnkonstitution anhand des Textes - fungieren. Erzähltheorie nimmt auch deswegen eine solche Kernstelle der Literaturwissenschaft ein, weil sich am Erzähler wesentliche Aspekte der Literaturwissenschaft kristallisieren, so die Frage nach dem fiktionalen Status literarischer und insbesondere epischer Texte, Gattungsfragen ebenso wie die allgemeinen Fragen nach den Prinzipien der immanenten und transzendenten Textkonstitutionen, also der Frage, wie ein Text überhaupt entsteht, was er davon preisgibt und welche Form er eben dadurch annimmt.

Aber die Vermittlerfunktion des Erzählers geht noch über methodische Fragen hinaus und erfüllt auch eine Brückenfunktion im methodologischen Bereich. So lassen sich die geschilderten Traditionsstränge durchaus auf entsprechende methodologische Konstellationen zurückführen, wenn z. B. Ricœur seine erzähltheoretischen Überlegungen in den Zusammenhang von Hermeneutik und Strukturalismus stellt. Deutlich wird auch, wie sich der Strukturalismus gerade an erzähltheoretischen Fragen in den Poststrukturalismus hinein verlängert, wenn es z. B. um das Modell einer Schreibweise geht, in der die Differenz von Realität und Fiktion schon längst zeichentheoretisch suspendiert ist (das zeigt der Beitrag von Barthes) und der Leser in der Lektüre den Text neu schreibt (das zeigt die Relektüre von Barthes' "S/Z" durch Johnson).

Und schließlich eröffnet Erzähltheorie sogar einen Blick auf medientheoretische und kulturwissenschaftliche Fragestellungen: Der Beitrag von Kluge macht am Beispiel des Films das Problem des Realismus als Problem der Abbildung 'anschaulich'. Der Beitrag von Byatt und Sodré spielt noch einmal die Verwandtschaft von literarischem Text und Traum auf der Grundlage der produktiven Kraft psychischer Arbeit durch.

Noch ein Wort zur Auswahl, und damit komme ich noch einmal auf die dokumentarische Funktion der Bereitstellung von Texten zurück. So sehr die Rechnung aufgeht und der Leser sich freut, wenn ihm kanonische Texte eines Diskussionszusammenhangs gesammelt dargeboten werden, nahezu zwangsläufig stellen sich zwei Fragen: Warum nicht Beiträge anderer Autoren?, Warum nicht andere Beiträge derselben Autoren? Z. B.: Warum fehlt Walter Benjamins Erzähler-Aufsatz? Warum nicht einen Auszug aus Barthes "S/Z", zumal Johnson darauf eingeht, oder von Stanzel nicht einen Auszug aus den "Typischen Formen des Romans"? Warum nicht Auszüge von Lukács? So berechtigt bisweilen solche Fragen sein mögen, so wenig können sie beantwortet werden. Den idealen Sammelband gibt es - aus pragmatischen und oft banalen Gründen - nicht. Und der vorliegende Band macht deutlich darauf aufmerksam: "Wie jede Anthologie ist auch dies ein Kompromiss zwischen dem Wünschbaren und dem aus rechtlichen und finanziellen Gründen Möglichen." Die Fragen erübrigen sich angesichts einer Auswahl, die ihren Zweck erfüllt: den Überblick zu bieten.

Und noch ein letztes Wort zur exzellenten Aufmachung: Jeder Beitrag wird mit einer kurzen bio- und bibliographischen Skizze eröffnet. Wo es notwendig ist, werden Namen und Begriffe aus den Beiträgen in Anmerkungen erläutert. Und die Beiträge schließen wiederum mit Lektürehinweisen, zunächst, was die Beiträge im Band angeht, um so die Vernetzung der Diskussion nachlesbar zu machen, aber auch im Blick auf weiterführende Texte. Eine Auswahlbib liographie und ein Personenverzeichnis schließen den Band ab und erleichtern den Zugang zu den Beiträgen.

Titelbild

Karl Wagner (Hg.): Moderne Erzähltheorie.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2002.
487 Seiten, 22,60 EUR.
ISBN-10: 3825222489

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