In einem Hiroshima aus Staub

Jeroen Brouwers' Roman "Geheime Zimmer" zeigt, dass man auch mit einer Stilblütensammlung Literaturpreise gewinnen kann

Von Stephan LandshuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Landshuter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman "Geheime Zimmer" des in deutschen Landen weitgehend unbekannten Jeroen Brouwers erhielt in den Niederlanden eine Reihe wichtiger Literaturpreise und stieß auch in den Rezensionen deutschsprachiger Länder vorwiegend auf Zustimmung. So zeigte sich auch Alexander von Bormann in der "Frankfurter Rundschau" durchaus angetan, allerdings spricht er im vorletzten Satz seiner Besprechung versteckt einen wichtigen Punkt an, er sagt dort: "Wenn ein Lektor ein paar kräftige Schnitte gewagt hätte, wäre das Buch möglicherweise ein Meisterwerk geworden." Diesen Gedanken aufgreifend wollen wir hier formulieren: Wenn ein Lektor, der diesen Namen verdient, das Manuskript zu diesem Buch in die Hände bekommen hätte, dann hätte sich Brouwers mit einer so großen Zahl von Einwänden wiedergefunden, dass er das Buch vor einer Publikation nochmals stark hätte überarbeiten müssen. Er wäre in diesem Fall mit den sprachlichen Unzulänglichkeiten konfrontiert worden, die übrigens nicht der Übersetzung angelastet werden können, wie Vergleiche mit dem niederländischen Original zeigen. Da die meisten der mir vorliegenden Besprechungen weidlich den Inhalt wiedergeben, soll hier darauf verzichtet werden. Im folgenden soll nur die Darstellungsweise und im besonderen die Sprache des Romans besprochen werden, da sich bislang niemand diesen für die Bewertung eines literarischen Kunstwerks nicht ganz bedeutungslosen Punkten zu widmen scheint.

Ein Grundproblem halst sich der Autor schon damit auf, dass er seinen Roman aus der Ich-Perspektive seines Protagonisten erzählen lässt, denn dieser Erzähler ist eine so erbärmliche, selbstmitleidige, realitätsferne Jammergestalt, dass einem übel werden könnte. Selbstverständlich haben auch solche Figuren ihre Berechtigung, aber in der Ich-Form gibt es als Autor (und auch als Leser) kaum eine Möglichkeit Distanz zu wahren. Über 400 Seiten ist der Leser gezwungen, die Welt durch die Augen dieses in jeder Hinsicht armseligen Helden zu betrachten, und wenn dieser Held keine Selbstironie hat, dann hat das Buch auch keine. Aus der Perspektive der dritten Person, die dem Autor ja auch noch die Möglichkeit des "Personalen Erzählens" gelassen hätte, wäre es möglich gewesen, dieselbe Geschichte um einiges vielschichtiger zu vermitteln. Es ist mühselig, einem Ich-Erzähler zu folgen, der einen fortwährend mit pathetischen Liebesvisionen traktiert und der es nicht unterlassen kann, als Sprachrohr des Autors auf der im Titel bereits zum Ausdruck gebrachten Grundmetaphorik der verborgenen Räume in der menschlichen Psyche ohne Unterlass herum zu reiten. Brouwers scheint von einem Leser auszugehen, dem man die Hauptideen stets aufs Neue überdeutlich mitteilen muss. Obendrein ist diese Raummetaphorik auch noch alles andere als originell, ist sie doch seit über hundert Jahren ein Gemeinplatz der Moderne.

Was als nächstes ins Auge springt, ist die Tatsache, dass dieser Roman in seiner gesamten Grundstilistik nicht als gelungen bezeichnet werden kann. Allzu viele Seiten wirken, als wären sie flüchtig hingeworfen und danach nie mehr bearbeitet worden. Man muss sich fragen, was der Autor in den fünf Jahren, in denen er angeblich an diesem Text gearbeitet hat, gemacht hat? Sind all die holprigen Sätze, die unnötigen Ellipsen, über die man auf jeder Seite stolpert, wirklich unvermeidbar gewesen? Den Einwand ahnend, dass dieser abgehackte, rhythmuslose Nicht-Stil die nervöse psychische Verfassung des Ich-Erzählers widerspiegeln soll, kommen wir auf unseren ersten Kritikpunkt zurück: Wenn eine Figur sich nur in schlechter Sprache ausdrücken kann, dann darf man sie eben nicht zum Ich-Erzähler eines langen Romans erheben, es sei denn, dies wäre durch einen höheren künstlerischen Grund gerechtfertigt.

Das Hauptärgernis an diesem Roman aber sind die unzähligen Ausrutscher auf dem Glatteis der Konstruktion von Metaphern und Vergleichen. Wir müssen uns auf sieben prägnante Beispiele aus der Halde an schiefen Bildern beschränken, zu ausufernd wäre eine vollständige Liste.

Erstes Beispiel: "Einmal kam sie [eine Hündin] aus den wie mit Sperma überzogenen Wiesen mit einer noch zappelnden Scholle im Maul zurück." Weshalb der Autor ausgerechnet Sperma wählt, um Morast oder mit sonstigem Schleim bedeckte Wiesen zu beschreiben, bleibt offen. Man bedenke auch, wie viele Hektoliter an dieser Körperflüssigkeit nötig wären, um eine Wiese zu bedecken. Ein denkbar unangemessener und sinnloser Vergleich also.

Zweites Beispiel: Bisweilen begeben sich Brouwers und sein Erzähler auf das Terrain der Mathematik, um psychische Verwirrung auszudrücken: "In meinem Kopf tauchten Rechenaufgaben auf, und ein böser Geist befahl mir, auf der Stelle Lösungen zu finden, sie würden mir Einsicht in mich selbst und mein Leben verschaffen, doch ich war zu verwirrt und zu nervös, um die algebraischen Formeln sofort zu enträtseln, sie waren schon von der Schultafel gewischt, bevor ich sie verstand, und heraus kamen nur Nullen." Wie, so möchte man angesichts dieses Metaphernwirrsals fragen, kann man die Lösungen von Rechenaufgaben wissen, wenn sie schneller verschwunden sind, als man sie verstehen kann? Das ist das eine Problem. Zum anderen scheint der Autor implizieren zu wollen, dass eine Null keine sinnvolle Lösung einer Gleichung sei. Solche Wertungen kennt die Mathematik nicht. Eine Null ist zunächst nicht besser oder schlechter als jede andere Zahl. (Man vergleiche zu dieser Art des Metapherngebrauchs noch einmal Sokal und Bricmonts wunderbares Buch "Eleganter Unsinn", in dem der Missbrauch der Naturwissenschaften in oft haarsträubenden Metapherngebäuden von postmodernen Denkern nachgewiesen wird.)

Beispiele drei und vier: Wenn der Erzähler zum Ausdruck bringen will, dass der Eintritt eines bestimmten Ereignisses sehr unwahrscheinlich ist, dann greift er mit Vorliebe auf Vergleiche zurück, die so beliebig wie blöd sind: "Eher würde sich der Petersdom in eine mit einer Kuppel versehene Aufschichtung von Speiseeis verwandeln." Weshalb hier ohne Not und ohne jeden Bezug zum Kontext auf den Petersdom und Speiseeis zurückgegriffen wird, kann beim besten Willen nicht nachvollzogen werden. Es hätte auch der Eiffelturm sein können, der sich in eine Rakete verwandelt o. ä. Einige Seiten weiter eine ähnliche Situation: "Eher hätte die Venus von Milo plötzlich drei Arme." Warum nicht die Mona Lisa von da Vinci drei Augen?

Beispiel fünf: Einmal trägt die Phantasiegeliebte des Erzählers ein Kleid, das nicht seinem Geschmack entspricht, was ihn zu dem Gedanken anregt, die Dame sehe aus "wie eine Trauer tragende Stopfnadel im Schnee". Wer sich irgend etwas unter diesem Bild vorstellen kann, möge es mir mitteilen.

Beispiel sechs: Einmal hat unser Held eine Erkenntnis, die sich ihm "klar wie ein Zenit voller Sterne aufdrängte". Einen Himmel voller Sterne hätte man sich ja vorstellen können, aber einen Zenit voller Sterne? Der Zenit ist ein Punkt am Himmel, hat als solcher keine Ausdehnung, weshalb bestenfalls ein einziger Stern, und streng genommen auch dieser schon metaphorisch, sichtbar im Zenit stehen kann. Ein "Zenit voller Sterne" aber ist schlicht Nonsens.

Und schließlich folgt auf der viertletzten Seite, gewissermaßen als ungekrönter König der Stilblüten dieses Buchs, die Stelle, an der ein Saurierskelett in einem Museum umfällt. Was macht Brouwers aus dieser Szene: Der Saurier geht "in einem Hiroshima aus Staub" zu Boden. Man liest die Stelle mehrmals und fasst es nicht. In einem Hiroshima aus Staub? Es steht wirklich da und will nicht verschwinden. Man vergleiche nur einen kurzen Moment einen einstürzenden Saurier mit der Apokalypse der Atombombe von Hiroshima mit Abermillionen Toten und Gezeichneten in einer ausgelöschten Stadt. Diese Stelle, in Addition zu all den anderen Missgriffen, ist äußerst vielsagend: Dieser Autor weiß manchmal einfach nicht, was er schreibt. Wer solch schiefe oder gar geschmacklose Metaphern benutzt, kann erzählen, was er will, wirklich gute Literatur wird nicht mehr daraus.

Was also soll man angesichts dieses preisgekrönten Romans, der als Brouwers' opus magnum gilt, abschließend noch sagen? Vielleicht nur dies: Es gibt so viele wirklich gute niederländische Autoren - neben den altbekannten Harry Mulisch, Cees Nooteboom, A. F. Th. van der Heijden, Maarten 't Hart noch die vielzu wenig bekannten Oek de Jong ("Ein Kreis im Gras"!) und Jan Brokken, dazu den eben neu zu entdeckenden Willem Frederik Hermans - man muss nicht auf sprachlich halbgare Werke wie dieses zurückgreifen.

Titelbild

Jeroen Brouwers: Geheime Zimmer.
Übersetzt aus dem Holländischen von Christiane Kuby.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002.
432 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 342105598X

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