"Wohlthaten einer gleichen bürgerlichen Verfassung"

Zu den Schriften des romantischen "Kodifikationsstreits" zwischen Thibaut und Savigny

Von Felix SaureRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Saure

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Stelle Dir zum Beispiel Savigny vor, der mit dem Glockenschlag 3 wie besessen mit einem langen Spieß über die Straße rennt", das schreibt 1813 mit durchaus karikierendem Unterton Bettina von Arnim an ihre Schwester. Zur Berliner Landsturmeinheit, deren militärische Übungen zu Beginn der antinapoleonischen Befreiungskriege hier exemplarisch beschrieben werden, gehörten neben Friedrich Carl von Savigny auch andere Protagonisten der deutschen Romantik wie der Philosoph Fichte und der Architekt Schinkel. Zwar hatte diese Truppe keine Feindberührung, doch die Auseinandersetzung mit dem Erbe Napoleons sollte die wissenschaftliche Karriere Savignys - Jurist und Professor an der neugegründeten Berliner Universität -, nachhaltig bestimmen.

Er war entscheidend an der Diskussion um eine Rechtsreform beteiligt, die der Code Napoléon entfacht hatte, das auch in den deutschen Satellitenstaaten eingeführte französische Gesetzbuch. Nach dem Ende der Ära Napoleon sollte ein ähnliches Projekt ganz Deutschland privatrechtlich vereinheitlichen und juristisch konsequent modernisieren. Es ging um die Frage nach der "Kodifikation" des Zivilrechts, um die Möglichkeit, einen gemeinsamen Kodex an die Stelle der zahlreichen unterschiedlichen Rechtssysteme in den vielen deutschen Staaten zu setzen. Mit seiner Schrift "Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland" eröffnete 1814 der Heidelberger Jurist und Gelehrte Anton Friedrich Justus Thibaut die Auseinandersetzung, die unter dem Namen "Kodifikationsstreit" in die Geschichtsbücher eingehen sollte.

Seine Analyse des deutschen Gesetzwesens fällt klar negativ aus, es sei ein unzusammenhängendes Konglomerat aus sich widersprechenden, von sachlichen und territorialen Ausnahmen bestimmten Regeln. Was Thibaut angreift, ist das System des Römischen Rechts, das seit dem ausgehenden Mittelalter die zentrale Grundlage des Privatrechts in Deutschland bildete. Es existierte aber nicht als ein eigentliches Gesetzbuch, nicht als ein "authentischer oder patentisirter Text", sondern nur in seinen zahlreichen historischen und landesspezifischen Ausprägungen. Deshalb bedürfe das Römische Recht in seiner Auslegung und Anwendung eines komplexen und kostspieligen Juristenapparats, "dieß hat die friedliche Sicherheit des Bürgers tausendfältig gestört, und nur den Anwälden die Taschen gefüllt". Damit stimmt Thibaut nicht nur in die schon damals beliebte Juristenschelte ein, sondern verweist auf ein wesentliches Problem für die sich formierende kapitalistische Gesellschaft. So konnten beispielsweise Zivilstandsfragen oder das Schuldrecht im schlimmsten Fall von Stadt zu Stadt und von Landstrich zu Landstrich juristisch unterschiedlich geregelt sein und behinderten so die ökonomische und soziale Entwicklung. Thibaut hält dagegen, daß "[e]in einfaches National-Gesetzbuch, mit Deutscher Kraft im Deutschen Geist gearbeitet", solche Schwierigkeiten beseitigen könnte, die Gesetze den Bürgern einsichtig machen würde und die Grundlage für eine umfassende und effektive Juristenausbildung böte.

Eine politische Einheit für Deutschland sieht Thibaut nicht am Horizont. Gleichwohl soll das neue Gesetzbuch eine innere Geschlossenheit der Nation erzeugen. Durch gleiche Gesetze würden "gleiche Sitten und Gewohnheiten" begründet, die wiederum schaffen "Völkerliebe" unter den vielen deutschen Stämmen und "Völkertreue" zur gemeinsamen Nation. Thibaut präsentiert das Rechtssystem als eine Komponente zur Überwindung der politischen Fragmentierung mittels Beförderung der deutschen "Kulturnation". Durchsetzen konnte sich der Heidelberger Jurist nicht, ein einheitliches deutsches Privatrecht trat erst im Jahre 1900 mit dem BGB in Kraft.

Prompt erfolgte unter der Überschrift "Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" Savignys Replik auf Thibauts Anliegen. Obwohl als Entgegnung auf die "Schandschrift" des Kollegen verfaßt, ist der Text kein hastig hingeworfenes Pamphlet, sondern faßt schon lange vorbereitete Ideen konzise zusammen. Savigny stellt die drei bedeutenden zeitgenössischen Kodifikationsprojekte vor - den Code Napoléon, das preußische Allgemeine Landrecht und das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch -, und nimmt zu den aktuellen Bestrebungen in Deutschland kritisch Stellung. Gesetzessammlungen, die "sich aller historischen Eigenthümlichkeit enthalten, und in reiner Abstraction für alle Völker und alle Zeiten gleiche Brauchbarkeit haben", seien zum Scheitern verurteilt - den universellen Ansprüchen der neuen Kodizes wird so eine eindeutige Absage erteilt. Aber Savigny geht weiter und wendet sich auch gegen die Bestrebungen Thibauts, ein spezifisch deutsches Gesetzbuch als neuen Standard einzuführen. Entscheidendes Element seiner Argumentation ist die Historizität.

Für Savigny ist es undenkbar, eine Rechtsordnung quasi über Nacht zu wechseln, weil sie ein integraler Bestandteil der kulturellen Entwicklung einer Nation sei. Es bestehe ein "organische[r] Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Character des Volkes". Ähnlich wie die Sprache könne dieses Gefüge nicht prinzipiell geändert werden, es kann nur um die Evolution auf historischer Grundlage gehen. Ein absoluter Stillstand existiert in dem Modell nicht und daher auch kein Ausgangspunkt für eine grundlegende Neuschaffung des Gesetzsystems, denn das Recht "wächst also mit dem Volke fort, bildet sich aus mit diesem, und stirbt endlich ab, so wie das Volk seine Eigenthümlichkeit verliert."

In Savignys Geschichtsphilosophie übernehmen bei einem fortgeschrittenen Entwicklungsstand eines Volkes die wissenschaftlichen Juristen die Weiterentwicklung der Gesetze. Fachgelehrte werden zu den notwendigen Interpreten des Rechts, das nicht der "Willkühr eines Gesetzgebers" ausgeliefert ist, sondern sich aus dem erst von Savignys Nachfolgern so bezeichneten "Volksgeist" ergibt. Hauptaufgabe der akademischen Juristerei - und daraus bezieht die von Savigny begründete "Historische Schule der Rechtswissenschaft" ihren Namen -, ist die gründliche Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Rechtsquellen. Für Deutschland bedeutet dies insbesondere das Studium des Römischen Rechts. Am Ende der historischen Analyse und Systematisierung könnte dann möglicherweise ein Gesetzbuch stehen, das nicht "willkürlich" wie die Kodifikationsprojekte Thibauts oder Napoleons wäre.

Mit seiner Vorstellung einer historisch-genetischen Nationalentwicklung und einer organischen Einheit der Kultur befindet sich Savigny im Kontext von ähnlichen Ideen deutscher Romantiker. So formulierte auch der Staats- und Ästhetiktheoretiker Adam Müller - wie Savigny in der preußischen Reformzeit Mitglied der "Christlich-deutschen Tischgesellschaft" -, seine Ansicht, daß der Staat mit seinem Rechtssystem nicht zur politischen Disposition stehe, weil er ein historisch gewachsener Organismus sei. Elegisch heißt es in Müllers "Die Elemente der Staatskunst" (1809) über die Geschichtlichkeit des Gesetzwesens: "Wie selten ist auch nur die Ansicht, sich die Gesetze als ein Vermächtnis der vergangenen Jahrhunderte oder als die Essenz der Nationalgeschichte zu denken!"

Die Programmschriften des Kodifikationsstreits sind daher essentielle Dokumente für jeden, der sich mit Ideengeschichte und Theorie der deutschen Romantik beschäftigt. Auch sind einige Aspekte und Argumente des Streits von durchaus aktuellem Interesse. In gegenwärtigen politischen Diskussionen um die Zukunft der EU geht es immer auch um Rechtsvereinheitlichung - wobei das Argument der Identitätsstiftung aus der Debatte um eine Europäische Verfassung, das der Beförderung der ökonomischen Entwicklung aus dem Disput um französischen Rohmilchkäse und das deutsche Bierreinheitsgebot vertraut ist. Auch die Frage, wie weit man kulturelle und historische Spezifika zur Grundlage neuer Rechtssysteme machen darf, kann oder soll, ist ein 'hot topic' internationaler Politik.

Diesen aktuellen Kontext berührt Hans Hattenhauer in seinem Vorwort zur zweiten, vermehrten Auflage der Programmschriften von Savigny und Thibaut nicht. Die nur an wenigen Stellen veränderte Einleitung wirkt fast drei Jahrzehnte nach dem ersten Erscheinen an manchen Stellen stilistisch ein wenig überholt. Und auch, daß Hattenhauer eine Deutung von Thibauts Persönlichkeit als "die glückliche Mischung französischer Lebhaftigkeit mit deutscher Gründlichkeit" übernimmt, wird den heutigen Leser irritieren, werden hier doch nationale Stereotype mustergültig fortgeschrieben. Aber die Einführung ist dennoch auch für jeden Nichtjuristen lesenswert, denn sie liefert nicht allein die Biographien der beiden Protagonisten, sondern ordnet zugleich den Kodifikationsstreit in den rechtshistorischen Kontext ein. Die Texte Thibauts und Savignys mit ihren Ergänzungen werden in der Edition zudem um eine ausführliche aktuelle Bibliographie und weitere zeitgenössische Aufsätze zum Schulenstreit ergänzt.

Titelbild

Hans Hattenhauer (Hg.): Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften.
Verlag Vahlen, München 2002.
310 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3800627833

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