Realismus am Abgrund
Karl Gutzkows Roman "Die neuen Serapionsbrüder" in einer Edition mit CD-Rom
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Wer läge heute noch auf dem Sopha und läse ruhig einen Roman [...]! Wo sind die Menschen stiller Versenkung und Absperrung gegen die immer, sagen wir es offen heraus, dümmer und dümmer werdende Außenwelt!", schreibt Karl Gutzkow im Vorwort zur zweiten Auflage seines späten "Romans des Nebeneinander", "Die neuen Serapionsbrüder" (1877).
Der auf bestürzende Weise aktuelle Text kritisiert den deutschen "Turbokapitalismus" der Gründerzeit nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71. Rücksichtslose Spekulanten treiben ihre persönliche Gewinnmaximierung voran, die Kirche intrigiert in bigotten politischen Zirkeln und blinder Nationalismus ist Trumpf. Gutzkow schildert den Absturz des radikal-kapitalistischen Systems der Ära Bismarck, das in der Wirtschaftskrise von 1873 wie eine Blase zerplatzte und die aufklärerischen Ziele des deutschen Idealismus endgültig mit sich in den Abgrund riss.
Zwei Jahre vor seinem Tod wandte sich der Autor noch einmal der Aufgabe zu, einen panoramatischen Zeitroman zu schreiben und knüpfte damit an seine grandiosen Werke der 1850er Jahre an, die von Arno Schmidt in den 1960er Jahren ins Gedächtnis gerufenen "Ritter vom Geist" und "Der Zauberer von Rom".
Erstmals nach 125 Jahren liegen "Die neuen Serapionsbrüder" nun wieder in einer gebundenen Buchausgabe vor, die im Rahmen des verdienstvollen Keeler Gutzkow-Editionsprojektes (www.gutzkow.de) erschienen ist. Im Anhang findet sich ein umsichtiges Nachwort von Herausgeber Kurt Jauslin, während die beiliegende CD-Rom den Text und den Stand der übrigen Werkedition in digitaler Form vorbildlich erschließt.
"Wol [sic] nicht oft mag ein Buch in so heiterer Laune geschrieben worden sein, als das nachfolgende", schreibt Gutzkow im bereits zitierten Vorwort über sein letztes großes Werk. Das wirkt wie eine bittere Ironie auf den radikalen Pessimismus, der den Roman in der konsequenten Gefolgschaft der Philosophie Arthur Schopenhauers und Eduard von Hartmanns bestimmt. "Die resignative Stimmung, die in den Neuen Serapionsbrüdern vorherrscht, verdankt sich der Einsicht, mit den richtigen Überzeugungen auf verlorenem Posten zu stehen; und diese Einsicht ist die Folge der endlich erkannten realen Gesetzmäßigkeit: dass nämlich das einzige Kriterium der Wirtschaft das Wachstum der Gewinne ist und alles beseitigt werden muss, was die Gewinnmaximierung behindert", erläutert Jauslin in seinem im Anhang des Buches veröffentlichten Essay.
Gutzkow schrieb gegen den wachsenden Nationalismus, den preußischen Militarismus und gegen den immer schrankenloseren Manchester-Kapitalismus seiner Zeit an und vertrat dabei einen Liberalismus, der auf der Regulierung des ökonomischen Egoismus durch den Staat beharrte. Seine wachsende Verbitterung über die Nutzlosigkeit dieses Unterfangens führte schließlich dazu, dass er - wie in seinem hier abgedruckten Vorwort nachzulesen ist - das allgemeine Wahlrecht denunzierte und die Zensur für ein angemessenes Mittel der Volkserziehung hielt.
Diese profunde politische Resignation findet ihren Widerhall im Stimmengewirr des Romans. Zwar ist das von Gutzkow aufgerollte Panorama hier nicht mehr so monumental wie noch in seinen mehrtausendseitigen Romanen der 1850er Jahre, doch in der Aura des zum Erscheinungszeitpunkt des Werkes immer lauter werdenden Antisemitismus der "Blut-und-Eisen"-Zeit werden nun auch Töne vernehmbar, die auf ungute Weise in das kommende Jahrhundert vorausweisen. Gutzkows Realismus jener Jahre sieht gnadenlos in den gähnenden Abgrund einer Barbarei, die bereits nicht mehr aufzuhalten ist.
Der Roman richtet seinen Blick inmitten dieser kritischen historischen Verhältnisse auf die an Goethes "Wahlverwandschaften" erinnernde Liebesgeschichte zwischen Graf Udo, seiner Frau Ada, Helene Althing und ihrem Bruder, dem aufstrebenden Juristen Ottomar.
Wie sollte es anders sein: Graf Udo liebt die brave, blonde Helene und die brünette, feurige Ada liebt Ottomar! Der dramatische gesellschaftliche und sittliche Konflikt zwischen Adel und bürgerlicher Sphäre als literarischer Topos des 19. Jahrhunderts, der etwa in Gustav Freytags "Soll und Haben" (1855) noch zentral war, ist jedoch hier bei Gutzkow an der Schwelle zur literarischen Moderne bereits in der Auflösung begriffen. Dass der Adel seine gesellschaftliche Führungs- und Machtposition in den 1870er Jahren längst an das Bürgertum verloren hatte, manifestiert sich in den "Serapionsbrüdern" darin, dass Helene zuletzt wie selbstverständlich einen markigen humpelnden Seebären heiratet und Graf Udo damit doppelt leer ausgeht: Er verliert seine schöne Frau Ada an Ottomar, und seine grosse Liebe gibt ihm trotz winkenden gesellschaftlichen Aufstiegs und Reichtums kaltschnäuzig den Korb.
Ganz ähnlich verhält es sich mit der Rolle des protestantischen Jesuiten Merkus, den Gutzkow in den "Serapionsbrüdern" sein intrigantes religiöses Possenspiel treiben lässt: War sein jesuitisches Pendant in den "Rittern vom Geiste" noch ein verflixt lästiger Ausbund des abgrundtief Bösen, so kann einem Pfarrer Merkus in seinem hektischen Aktionistismus, den toten Gott doch noch in der gesellschaftlichen Welt zu behaupten, fast schon wieder Leid tun. Bei seinem schweigsamen Auftritt im Kreise der Serapionsbrüder gegen Ende des Romans kann Merkus bereits nichts mehr tun, als entsetzt den weltlichen Gang der "verspäteten Nation" (Helmuth Plessner) zu bestaunen, in der die Theodizee endgültig ihre sinnstiftende und Macht erhaltende Bedeutung an Kapitalismus und Wissenschaft verloren hat.
Bemerkenswert ist außerdem die bei mehreren sympathietragenden Figuren des Romans auftretende, vollkommene Ablehnung des heraufkommenden "Socialismus", der im Erzählstrom des Textes als eine parvenühafte Unverschämtheit einiger bierseliger Faulenzer erscheint. Als Fanal dieses angeblichen sozialistischen Irrläufertums des Pöbels tritt der Arbeiterfreund Raimund Ehlert samt seinem bezeichnenden Schicksal in Erscheinung: Er endet im Delirium Tremens.
Die folgenschweren Dekadenzängste der Jahrhundertwende, die die Verwesung und den Zerfall der Gesellschaft in allem Fremden und Unbekannten, also auch in den zwangsläufigen gesellschaftlichen Umwälzungen im Zuge der Industrialisierung sich nähern sahen, scheinen hier bereits heraufzudräuen und in den Text einzudringen.
In der konsequenten Auflösung überkommener Erzählmodelle des 19. Jahrhunderts, die sich etwa in der merklichen Zurücknahme der Bedeutung des auktorialen Erzählers manifestiert, ist Gutzkow zeitgenössischen Kollegen wie Theodor Fontane überlegen. Dies wird, wie Rolf Vollmann in seiner Rezension in der ZEIT richtig bemerkt hat, erst mit dem Abstand eines Jahrhunderts richtig erkennbar. Gutzkows letztes Werk beleuchtet bereits den noch fernen Abgrund, auf den das kapitalistische System der Ära Bismarck zuzusteuern begann. Wenn der Großindustrielle Wolny bei Gutzkow triumphierend gegenüber dem alkoholkranken Arbeiterführer Ehlert äußert: "Merkwürdig, als Sie einsahen, daß die sociale Frage ein reiner Schwindel der Faulheit, der Arbeitsscheu und einiger verrückten jüdischen Rabbinen, Marx und Heß, ist", so leuchtet darin schon die Gefahr auf, die Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der "Dialektik der Aufklärung" 1944 wie folgt beschrieben: "Wer irgend dem Faschismus die Chance gibt, subskribiert mit der Zerschlagung der Gewerkschaften und dem Kreuzzug gegen den Bolschewismus automatisch auch die Erledigung der Juden."
Man lege sich auf die Couch und lese Gutzkow. Der Leser entfernt sich in das vorvorige Jahrhundert, um aus der historischen Distanz um so schärfer auf die Gegenwart blicken zu können. Jedenfalls ist das gewinnbringender, als mit Deutschland den Superstar zu suchen, auch wenn sich in diesem Medienphänomen auf anderer Stufe die verhängnisvollen Formen der Verdummung wiederholen, die Gutzkow bereits vor 125 Jahren in die Resignation trieben.
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