Von der leisen Tragik des Exils
Werner Vordtriedes "Tagebuch aus dem amerikanischen Exil"
Von H.-Georg Lützenkirchen
Das "Tagebuch aus dem amerikanischen Exil" des Literaturwissenschaftlers Werner Vordtriede beleuchtet ein Exildasein abseits der Prominenz. Der es schrieb war 1933 einer der vielen Namenlosen, die durch die Nationalsozialisten ins ausländische Exil getrieben wurden. Der 18jährige Abiturient verließ Deutschland auf Drängen seiner politisch aktiven Mutter Käthe Vordtriede. Er begann in Zürich ein literaturwissenschaftliches Studium, das er 1938 in Amerika fortsetzte und abschloss. Zunächst als Sprachlehrer und schließlich als Professor in Madison/Wisconsin gliederte er sich in das amerikanische Universitätssystem ein.
Seinen Lebenslauf empfand Vordtriede als "von außen" aufgezwungen. Das Exil hatte ihn von seinen kulturellen Wurzeln getrennt und ihm seine eigentliche Biografie gestohlen. "Ich bin", schrieb der 32jährige am 3. 5. 1947, "der vielversprechende Jüngling, der nichts gehalten hat." Gemeint war damit nicht die erfolgreiche Universitätskarriere in der ,neuen Heimat', sondern der vergebliche "Traum, ein deutscher Dichter und Schriftsteller zu werden." In der Fremde des Exils, so reflektierte Vordtriede nach Erhalt der US-Staatsbürgerschaft am 8. 3. 1946, fehle es an etwas "ganz Entscheidendem [...], wodurch alles Denken, Urteilen, Aufzeichnen erst die richtigen Gewichte finden kann; daran nämlich im eignen Lande die Verhältnisse untersuchen zu können, sich am Verwandten zu reiben, die Möglichkeiten zu einem eignen Beßren zu verspüren. Hier reib ich mich nur am Fremden, und das ist natürlich unfruchtbar ..."
Das Tagebuch setzt ein mit dem Eintrag vom 3. September 1938 in Zürich: "Heute morgen das Visum für Amerika erhalten." Es endet am 25. September 1947 in New York nach der Rückkehr von einer Europareise. Dazwischen dokumentiert das Tagebuch ein Exilleben, in dem Sprache und Literatur dominieren - im realen Leben ebenso wie als Teile einer idealisierten Sehnsucht nach der Wunschbiografie als Schriftsteller. Sorgsam kommentiert Vordtriede Leseerfahrungen, immer wieder finden sich selbstverfasste Kapitel eines geplanten Romans, eigene Gedichte oder Übersetzungen von Gedichten eingeflochten. Das Tagebuch selbst sollte zum literarischen Werk werden. In diesem Sinne hatte Vordtriede es denn auch in den 70er Jahren für eine Veröffentlichung überarbeitet. So sind die einzelnen Einträge nicht nur als unmittelbare Reflexe des Erlebten zu lesen, sondern auch als Teile eines sorgsam durchkomponierten Opus mit literarischem Anspruch.
Immer wieder gestaltet der Tagebuchschreiber erlebte Szenen zu einer Imagination der verlorenen Heimat. Eine Wanderung, die er im Sommer 1940 durch die bergwaldige Natur abseits der Metropole New York unternimmt, schildert er im Gestus des einsam-melancholischen Romantikers. Die Natur ("Immer wieder fühl ich mich aufs listigste getäuscht und nach Europa versetzt.") beschreibt er in Stifter-Manier; die Menschen, die ihm begegnen, idealisiert er zu literarischen Typen: das idealschöne Mädchen, der einsamweise Mönch, der rätselhafte Junge. Sich selbst sieht er durch die Natur streifen wie Eichendorffs Taugenichts. "Hier stieß ich auf einen anderen Trailgänger und bin mit ihm weitergewandert. Ich bin auf diese Weise viel weiter vorangekommen, aber mit der träumerischen Saumseligkeit, der angenehmen Verlassenheit und dem Nachleben des Taugenichts war es aus."
Von besonderer Bedeutung für den Suchenden war die Bekanntschaft mit Richard Beer-Hofman, der 1939 nach Amerika emigriert war. Die Besuche in der New Yorker Wohnung des Wiener Schriftstellers und Theatermanns, enger Freund Hofmannthals und Schnitzlers, waren für Vordtriede Begegnungen mit der verlorenen Welt der deutschsprachigen Literatur. Sorgsam komponiert er die Begegnungen im Tagebuch als ehrfurchtsvolle Schüler-Meister-Gespräche. Dabei ist er sich der Grenzen solcher Art der Vergangenheitsbeschwörung bewusst. "Mein Leben," so schreibt am 1. 1. 1947, "hat nichts zu tun mit dem kostbaren Anspruch auf eine Odyssee. Es ist das Gegenteil, eine Telemachie, der Drang, das schon Vorgelebte noch einmal zu leben. Darum wohl wandte ich mich an Schaeffer, an Karo, an Beer-Hofmann, lauter Odysseuse, um zu hören, wie das Abenteuer war, das mir selber nicht mehr gelingen kann."
Gemeint war einmal mehr die ersehnte Schriftstellerexistenz. Die blieb unerreichbar, doch das Talent und die Liebe zur Sprache schufen zuweilen jenes Haus, in dem Vordtriede als "Homme de Lettres", wie er sich später zwischen Gelehrtem und Schriftsteller selber sah, auch in der Fremde Heimstatt finden konnte. Am 28. August 1942 notiert Vordtriede nach einem erfolgreichen Vortrag in Woodstock ("einer meiner stolzesten Tage"): "Dieser Garten, der halbdunkle Raum haben mir, für einen Tag, gehört. Die Worte müssen sich in den vielen Nischen gefangen haben und können mir nie mehr ganz verlorengehn. Was immer geschieht: einmal gab es ein Haus auf dem Byrdcliffe-Hügel ..." In der Euphorie eines durch Sprache und Wort symbolisch erworbenen Zuhauses erwirbt er wenige Tage später ein echtes Haus. "Ein Haus! Heut morgen haben ich mich entschlossen, ein Refugium auf dem Mt. Overlook zu nehmen." Die Bedeutung dieses Hauses sollte sich im Namen ausdrücken: "Abends in der Bibliothek in mythologischen Wörterbüchern geblättert, um einen Namen für mein Haus zu finden." Er nennt es "Nostos" (die Heimkunft) im Gedenken an Odysseus Rück- und Heimkehr. "Vielleicht ist das voreilig, da das ja nur eine vorläufige Heimkehr ist. Die wirkliche wird die nach Europa sein."
Eine erste versuchte Heimkehr nach Europa fand im Sommer des Jahres 1947 statt. Wieder münden die euphorischen Empfindungen im symbolischen Akt des Hauskaufs: "Damit war das wichtige Geschäft abgeschlossen, das mich wieder zum Europäer gemacht hat." Tatsächlich blieb er noch bis 1961 in Amerika. Erst dann kehrte er ganz nach Deutschland zurück, wo er in München lebte und lehrte. Werner Vordtriede starb 1985.
Dieses Tagebuch reflektiert höchst kunstvoll eine existentielle Verunsicherung. Es vermittelt über die unmittelbare Geschichte des Autors hinaus auch etwas von der leisen Tragik eines jeden Exils. Lob also dem Libelle Verlag, der nach der Veröffentlichung der Erinnerungen Käthe Vordtriedes nun auch dies Werk des Sohnes verfügbar macht. Schade nur, daß eine kommentierte Ausgabe nicht drin war.