Im Fokus der Metropole

Ein eindrucksvoller New York-Bildband

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Martin Scorseses Filmepos "Gangs of New York", der in diesen Tagen in den deutschen Kinos anläuft, wird ein kaum bekanntes Kapitel der immerwachen Weltstadt aufgeschlagen. Es geht um die Herrschaft rivalisierender Banden, die in einer Übergangszeit quasi die Stadtverwaltung ersetzten. Nur die Gangs hatten Mitte des 19. Jahrhunderts die Macht, in den Slumvierteln der Einwanderer Entscheidungen durchzusetzen, offizielle Ämter waren für die Immigranten aus aller Welt vorerst unerreichbar. Ihr Arbeiterheer benötigte New York für sein gewaltiges Wachstum. Am willigsten und billigsten waren die Iren: "Es gibt verschiedenen Energien beim Aufbau dieser Republik: Wasserkraft, Dampfkraft und 'Irenkraft'. Letztere schuftet am härtesten." So beschrieb ein Zeitungsverleger um 1840 den Sachverhalt. Allein 1841 kamen 100.000 irische Katholiken in die Stadt am Hudson, was zu Ressentiments in der protestantischen Oberschicht und unter den amerikanischen Arbeitern führte. Der Erfinder Samuel Morse forderte damals, gegen diese "papistische Verschwörung" irischer, also katholischer Einwanderer vorzugehen: "Erwacht! Auf Posten! Schließt die Tore! Eure als Freunde verkleideten Feinde schicken sich zu Tausenden an, die Portale der Einbürgerung zu stürmen und Euch in den Ruin zu stürzen." In den zehn Jahren nach der schrecklichen Kartoffelmissernte in Irland wuchs aber die Zahl der Iren in New York noch um eine Million. Blutige Rassenunruhen zwischen den beiden diskriminierten Gruppen der Schwarzen und Iren brachen aus, die in skrupellosem Lohndumping gegeneinander ausgespielt wurden. 1849 sterben bei der dreitägigen Revolte auf dem Astor Place in einem regelrechten Gefecht zwischen 8.000 irischen und amerikanischen Arbeiter und der Miliz 22 Menschen, 150 werden verletzt. In den 1850ern gehörten immer neue Straßenschlachten rivalisierender Gangs zum Alltag der Stadt; Heere bis 3.000 Mann zogen damals durch die Viertel.

Nicht nur um "Gangs of New York" besser verstehen zu können, eignet sich der einzigartige Bildband "New York. Die illustrierte Geschichte von 1609 bis heute", denn er begnügt sich nicht damit, dekorative Ansichten aus fünf Jahrhunderten in ezellenter Druckqualität zu zeigen. Die vielfältigen Texte bilden ein gleichwertiges Pendant zu den wundervollen und erschreckenden Fotografien, zu den historischen Gemälden, Porträts und Rekonstruktionen einer Stadt, deren Wildwuchs faszinierte und abstieß. Die Herausgeber wollten New York kein Denkmal setzen, vielmehr den Versuch unternehmen, durch Polyperspektivität etwas von dem komplexen Charakter dieser Stadt einzufangen. In ihrem historischen Durchgang blicken sie stets auf Hütten wie auf Paläste, auf einflussreiche Einzelne wie auf die Massen, auf die Slumwucherung wie auf die Stadtplanung, auf schier mittelalterliche Zustände wie auf technischen Fortschritt, auf Verbrechen wie auf soziale Taten, auf Geschäft wie auf Kultur. Die hoch infomativen Kapitel werden dabei immer wieder von Gedichten, Anekdoten, Lied- und Prosatexten aufgelockert.

Besonders gefangen nimmt gleichwohl die Auswahl wie das Arrangement der Bilder. Das Wachsen der Wolkenkratzer aus den Armenvierteln, das Entstehen der Vergnügungsparks in Coney Island, der Bau der Subwaylinien oder der Grand Central Station. Und dazwischen sehen einen Unbekannte an, einfache Bürger, Arme, Verbrecher, Wohltäter; wie zum Beispiel Josephine Baker: die Namensbase der berühmten Sängerin erreichte als Ärztin immense Fortschritte im Gesundheitswesen der Stadt.

Natürlich fehlen nicht die Katastrophen, vor allem die zahlreichen Brände, die Rassenunruhen, Generalstreiks. Besonders spektakulär war ein Unfall, der sich am 28.7.1945 ereignete. Ein B-25-Bomber rammte damals das Empire-State-Building auf Höhe des 79 Stockwerks, 14 Menschen sterben, aber die Statik des höchsten Gebäudes der Welt blieb unbeeindruckt. Nach einem Jahr sah man keine Spur mehr davon. 56 Jahre später war das anders, auch weil die Attentäter sich genau informiert hatten. Nur in der deutschen Ausgabe ergänzt ein beeindruckender Epilog zu Planung, Bau, Bestand und Zerstörung des World-Trade-Centers diesen Bildband, der in dem Fokus New York Geschichte und Geist Amerikas erkennen lässt.

Titelbild

Ric Burns / James Sanders / Lisa Ades: New York. Die illustrierte Geschichte von 1609 bis heute.
Frederking & Thaler Verlag, München 2002.
599 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-10: 3894056126

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