Kein Ereignis mehr

Im "Mittebuch" kramt der Verbrecherverlag in den Untiefen eines Zeitfensters, das zum Stadtteil wurde

Von Lennart LaberenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lennart Laberenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viele Menschen aus der Provinz ziehen nach Berlin, Ende der 90er Jahre vornehmlich nach Mitte. Der ganze Stadtteil ist aufgequollen von breitbrüstiger oder hochhackiger Provinz, die nun Mitte ist. Nicht wenige von ihnen machen, nach dem lustigen Zusammenfall der großen Ideen einer New Economy, Kunst. Etliche, so will es das Selbstverständnis der RespräsentantInnen dieser Mitte, schreiben. Die Rede ist von denjenigen, die dem Anschein nach geschlossen am Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität eingeschrieben sein könnten. Ihr Schreiben ist dann "ein Projekt" oder gar "eine Performance".

Das grade herausgekommene 'Mittebuch' aus dem Verbrecherverlag ist in doppelter Weise Zeugnis eines Stadtteils und eines Lebensverständnisses. Die vielen guten Beiträge schreiben mit Distanz und Ironie über die New Economy und stilisieren das Gefasel und den Habitus der Protagonisten zur Schablone, die noch heute um den Hackeschen Markt zu greifen scheint. Sie sind lebendig und witzig - das Erschrecken kommt erst bei der nächsten Fahrt durch die Rosenthaler Strasse.

Etliche nicht so gute Beiträge faseln selbst über einen pomadigen walk of fame oder skizzieren Stilleben, die auf fünf kleinformatigen Seiten erhebliche Längen aufweisen. Allerdings: Mitte ist demnach eine Phase, etwa von 1996 bis 2003 - der Beitrag von Stefan Ripplinger, der die Sprengung des Berliner Stadtschlosses zum Thema hat, fällt so merklich ab vom Tenor, der sich scheinbar ausschließlich um die Selbstsuche in grauen Hinterhöfen, illegalen Clubs oder New Economy-Pidgin dreht. Das Berlin etwa einer Irina Liebmann, die den Zeithorizont gewaltig hinterfragt hätte, bleibt beinahe völlig unentdeckt. Nur Doris Akrap und Iris Weiss, die in einem starken Text dem jüdischen Viertel in Mitte kritisch hinter die Kulissen schaut, erinnern daran, dass das heutige Endstadium von Beliebigkeit und Kommerz nur ein Appendix der Geschichte ist. Und so sind die Texte von Fehmi Baumbach, Marc Weiser oder vor allem Vanessa Diehl vermeidbare Oberflächen- und uninteressante Selbstbeschreibungen. Sie sind Ausdruck davon, dass sich in Berlin Mitte viele Menschen zu wichtig nehmen. "Mitte ist für die hier lebenden kein Ereignis mehr, es ist einfach nur da," schreiben die HerausgeberInnen. Das wird hoffentlich noch.

Titelbild

Verena Diehl / Werner Labisch / Jörg Sundermeier (Hg.): Mittebuch.
Verbrecher Verlag, Berlin 2002.
12,30 EUR.
ISBN-10: 3935843100

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