Vom Übersetzen und Dichten

Zwei Versdichtungen Marina Zwetajewas in deutscher Version

Von Matthias AumüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Aumüller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie kann man Versdichtung, die in einer fremden Sprache verfasst ist, ins Deutsche übertragen? Auf diese Frage gibt es zwei Antworten, die in gegensätzliche Richtungen führen und kaum einen Mittelweg zulassen. Zum einen gibt es die wörtliche Übersetzung, die auf Entsprechung in Rhythmus und Reim verzichtet und die jenseites der unmittelbaren Wortbedeutung nicht übertragbare Eigenheiten des Originals in Anmerkungen kommentiert oder ganz beiseite lässt. Dieser Möglichkeit unversöhnlich gegenüber steht die Nachdichtung, die sich gerade um die Beibehaltung von Rhythmus und Reim bemüht - um den Preis einer exakten lexikalisch-semantischen Entsprechung.

Der Slavist Hendrik Jackson - selbst schon mit einem eigenen Gedichtband hervorgetreten - hat sich im Fall der Werke Marina Zwetajewas für den zweiten Weg entschieden, den der Nachdichtung. Übertragen hat er ihr "Poem vom Ende" und ihren "Neujahrsbrief". Ergänzt werden die Dichtungen von essayartigen Kommentierungen des Übersetzers sowie dessen "Reflexionen zum Übersetzen".

Der "Neujahrsbrief" ist an Rainer Maria Rilke gerichtet und entstand unter dem Eindruck seines Todes unmittelbar danach im Januar 1927. Der Dichter und die Dichterin, die sich nie persönlich begegnet waren, hatten zuvor noch ein Treffen angestrebt und in recht ausführlichen Briefen miteinander korrespondiert. Anspielungen auf diese Korrespondenz sind auch in das Gedicht eingegangen, worüber der Kommentar zwar nicht erschöpfend, aber sachkundig aufklärt, um dem Leser ein Gefühl für die Machart zu geben.

Das "Poem vom Ende" gehört zu Zwetajewas berühmtesten Dichtungen. Es schildert in äußerst knapper Form den Abschied von einem Geliebten und geht auf persönliche Erlebnisse zurück. Knappe Form, das heißt zumeist Quartette, deren Verszeilen aus selten mehr als sieben oder acht Silben bestehen; das heißt auch häufig Zweiwortsätze, Ausrufe, Andeutungen der Verzweiflung und Sprachlosigkeit angesichts der Erinnerung der verlassenen Dichterin. Es gehört zu der Sorte Gedichten, deren verknappte Form so manchen fragen lassen werden, wieviel man von ihnen ohne Hintergrundwissen verstehen kann.

Doch lädt es zum Meditieren ein. Die abgehackte Sprache greift mit scharfen Kanten nach dem Herzen. Nach und nach versteht man die Rede der Dichterin von der zuweilen eingestreuten Rede des Liebhabers zu trennen. Man trifft Zuordnungen, man bemerkt Schlüsselwörter, und langsam aber sicher baut sich ein Verständnis auf, ein Erleben der emotionalen Situation, in der sich die Liebende befindet.

Die Nachdichtung hat im Falle vom "Poem vom Ende" selten auf die Wiedergabe von Reimen am Versende zu achten. Häufiger sind es Binnenreime und vor allem die komplexe Lautinstrumentierung und rhythmische Vielfalt, die eine Nachdichtung beizubehalten sich bemüht. Die offensichtlichen Reime am Ende einer Verszeile sind leicht zu entdecken, aber die phonischen Parallelismen, Inversionen und rhythmisch-syntaktischen Sprünge und Hopser erst zu orten und dann auch noch zu übertragen ist eine bemerkenswerte Leistung, und ein Vergleich zeigt, dass sich Jackson mit soviel Akribie und Verstand wie Anstand und Gefühl dieser Aufgabe angenommen hat.

Aber welchen Text soll man lesen? Das russische Original oder die deutsche Nachdichtung? So verdienstvoll und wünschenswert zweisprachige Ausgaben sind, im Falle von Nachdichtungen stellt sich fortwährend diese Frage. Wer liest zweisprachige Ausgaben? Doch meistens jene, die die Originalsprache gut genug verstehen, um die Texte lesen zu können, aber zu geringe Kenntnisse haben, um sie ohne Hilfsmittel ganz zu begreifen. Und wer die Originaltexte lesen kann, der kann auch ihre sprachlichen Finessen erkennen. Was er aber nicht kennt, sind die semantischen Eigenheiten des Originals. Und für eben diese Lesergruppe ist eine wörtliche Übertragung geeigneter. Damit sollen Nachdichtungen nicht verurteilt werden. Nur kommen Nachdichtungen ohne das Original aus. Um sie würdigen zu können, stört das Original vielleicht sogar nur.

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Marina Zwetajewa: Poem vom Ende. Neujahrsbrief.
Übersetzt aus dem Russischen von Hendrik Jackson.
edition per procura, Wien 2002.
133 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3901118500

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