Hohes Lied mit falschen Tönen

Medienkämpfe in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tue Gutes und rede darüber. Diese Maxime scheint für die Forschung ebensolche Gültigkeit zu besitzen wie etwa für Wirtschaftskonzerne. Und wer wollte bestreiten, dass es eine gute Tat ist, einem vernachlässigten Stiefkind die ihm gebührende Aufmerksamkeit und Zuwendung zukommen zu lassen. Lydia Andrea Hartl hat das "Zusammenspiel" von Literatur, Musik und deren Erleben und Erzeugen" als ein solches vernachlässigtes "Stiefkind der Forschung" ausgemacht, dem sie nun in einem von ihr zusammen mit Bernard Banoun und Yasmin Hoffmann herausgegebenen Sammelband zu den "Medienkämpfe[n] in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts" zu seinem Recht verhilft. Die Aufsätze des Buches gehen auf ein Symposium zurück, das Ende 1997 an der Universität Orléans stattfand und von den Instituten für Germanistik der Universitäten Orléans und Tours organisiert wurde.

Der Band gliedert sich in die Teile "Sprache, Stimme, Rhythmus, Schrift", "StimmKlangKunst" und "Die zerklüftete Sprachwelt", die jeweils durch einen ausführlichen Beitrag von Hartl eingeleitet werden. Im ersten ihrer drei Aufsätze holt die Kulturreferentin der Stadt München ungleich weiter aus als das Thema des Buches erwarten lässt und schlägt den Bogen von den Dichtungen Homers über die Dialoge Platons, über Hegel und Pythagoras, die Offenbarung Gottes als Stimme, wie sie in 2 Moses 2,2 geschildert wird, bis hin zum Kammerton A, dem seit 1834 gültigen Grundton der Musik von 440 Hz. Auch landet sie bei ganz allgemeinen Fragen, wie etwa derjenige, nach "innere[n] Repräsentationen von intendierten sprachlichen Äußerungen", um schließlich doch noch bestimmte Werke der Österreichischen Literatur in den Blick zu nehmen. Auch ihr zweiter Beitrag gilt zu einem großen Teil allgemeinen Erörterungen der "Bedeutung von Dichtung" und der "'Musik' dieser Bedeutung" als "Bedeutungen des menschlichen Körpers". Erst ihr letzter Text ist ganz der österreichischen Literatur gewidmet.

Die anderen AutorInnen, elf an der Zahl, bleiben in ihren ungleich kürzeren Beiträgen enger am Thema und befassen sich etwa mit Elias Canettis "Der Ohrenzeuge" (Eric Leroy du Cardonnay), der Poetik des späten Rilke (Hans Holzkamp), der Wiener Gruppe und Anna Nösts "Frauenlitaneien" (Klaus Zeyringer) oder Franz Kafka, wobei einige der behandelten AutorInnen offenbar durch eine Hintertür den Weg in die österreichische Literatur gefunden haben. Die Stimme dieses "Sprachmeister[s] des Verstummens", wie Hartel Kafka nennt, vernimmt Arlette Camion "mit Erstaunen" als "voix blanche". Es falle schwer, sie nicht als "Stimmlosigkeit des Leidens" zu hören, sei es doch unsere Gewohnheit, "die Stimme des Erzählers zu hören, nicht erzählende Stimme".

Thomas Bernhard, wird als einziger mit zwei Beiträgen gewürdigt. Aude Locatelli untersucht die "musikalische[n] Wiederholungen und Variationen" in seinem Roman "Der Untergeher" und Yasmin Hoffmann "Der Stimme der Vernunft" in "Immanuel Kant". Zunächst jedoch stimmt die Autorin in Horkheimers und Adornos Hohes Lied auf den listenreichen Odysseus ein, der "eine Lücke im Vertrag aufgespürt" habe, als er sich an den Schiffsmast binden ließ, um den Sirenen zu lauschen und ihnen dennoch zu entkommen. Seine "ganze Schicklichkeit", so die Autorin, bestehe darin, verstanden zu haben, dass man der Illusion am besten widersteht, indem man sich ihr hingibt. Dies sei ihm möglich geworden, da er eine "technische Einrichtung erfunden" habe, die es ihm erlaubt, "der Illusion nicht zu verfallen". Von einer Erfindung Odysseus' kann hier jedoch nicht die Rede sein. Tat er doch nichts weiter, als blind den Anweisungen Circes zu folgen, so wie die Autorin dem Text der "Dialektik der Aufklärung" folgt, ohne die Gesänge Homers zur Kenntnis zu nehmen. Ihr eigentliches Thema, die Interpretation von Immanuel Kant, der titelstiftenden Figur in Thomas Bernhards Stück, die - wie die Autorin betont - nicht mit dem Immanuel Kant zu verwechseln ist, fällt dann allerdings wesentlich überzeugender aus als diejenige des an den Mast gefesselten Odysseus.

Ingeborg Bachmann, die Bernhard in seinem Roman "Auslöschung" literarisiert, wendet sich Susanne Böhmisch zu; genauer gesagt, Bachmanns in den ersten Jahren nach seinem Erscheinen unterschätztem Erzählband "Simultan". Die Marseiller Literaturwissenschaftlerin weist auf einen bislang nicht beachteten Aspekt hin, auf ein "besonderes Insistieren" Bachmanns auf die "auditive Wahrnehmung" in ihren Erzählungen. Diese "Inszenierung von Stimmen" reiche hin bis zur Echolalie, also dem sinnfreien Nachplappern von Worten oder ganzen Sätzen insbesondere von Geisteskranken. Nun lassen sich diese in den fünf Erzählungen zwar kaum finden - sieht man vielleicht einmal von der das Gebell ihres toten Hundes halluzinierenden Frau Jordan ab - doch wählt Böhmisch den Terminus Echolalie offenbar, weil sein Wortstamm auf ihre zentrale These verweist, der zufolge sich das Motiv des Echos und der Echo nicht nur durch die Erzählungen des Bandes zieht, sondern auch den "subtile[n] Differenzierungen" entspricht, die "in einer vorwärts und rückwärts gerichteten Textbewegung" das evoziere, was "gleichzeitig" geschehe und dennoch "ganz anders" sei, wobei einige Passagen und Figuren als "Allegorien für Schreib- und Leseprozesse" interpretiert werden könnten.

Wie Hoffmann rekurriert auch Böhmisch auf die griechische Mythologie, und auch ihr unterläuft eine, allerdings nicht so gravierende, Ungenauigkeit. Die Figur der Echo, so erklärt die Autorin, sei "ihrer eigenen Stimme beraubt" und somit dazu verdammt, "die letzten Worte des geliebten Narziß zu wiederholen". Ovids Mythos erzählt jedoch davon, dass Juno Echo nicht ihrer Stimme, sondern ihrer Worte beraubte. Denn die eloquente Nymphe lenkte sie ab, damit Jupiter sich ungestört mit anderen ihres Geschlechtes vergnügen konnte, was dazu führte, dass sie nur noch die an sie gerichteten Worte wiederholen konnte. Dass Böhmisch die unglückliche Oreade ihre Stimme statt ihre Worte verlieren lässt, ist umso erstaunlicher, als eine der eigenen Worte beraubte Echo Böhmischs These sehr viel besser entspricht als eine verstummte, etwa wenn sie Beatrix in "Probleme Probleme" zur "Papageienfrau" erklärt, mit der Figur des Echos verschränkt und zum "Echo der Männerworte" werden lässt.

Nicht nur für Großkonzerne und andere Wirtschaftsunternehmen erweist sich die eingangs zitierte Maxime als Gewinn bringend, sondern ebenso für die Forschung. Wovon zwar vielleicht nicht alle, aber doch zumindest einige der vorliegenden Aufsätze zeugen.

Titelbild

Bernard Banoun / Lydia Andrea Hartl / Yasmin Hoffmann (Hg.): Aug' um Ohr. Medienkämpfe in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2002.
248 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3503061223

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