Der Versuch, ein Irrlicht zu bannen

Gedichte von Heinz Czechowski

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinz Czechowski ist kein poetischer Bilderstürmer, der sich selbst als Neubeginn der Poesie setzt. Die Auseinandersetzung mit der Tradition, respektvoll sogar einem scheinbar überholten Dichter wie Gottsched gegenüber, prägt diesen Gedichtband, der im Titel einen anderen, fast schon vergessenen Autor nennt: Johann Gottfried Seume, der heute kaum über den Kreis der Literaturhistoriker hinaus bekannt ist.

Dabei lohnte die Beschäftigung mit diesem atheistischen Kritiker der Fürsten um 1800, den in politisch bewegten Zeiten die Zensur vielfach zum Schweigen zwang. Czechowskis Seume-Gedicht hebt an mit dem optimistischen Bekenntnis: "Ja, ich glaube noch immer / Daß sich das Gute durchsetzt", um dann doch zu zweifeln, wieviel von Seume blieb. Eine Brille im Gedenkhaus, angeblich auf einem Spaziergang vergessen, erinnert an den scharfen Beobachter Seume, der nun freilich vieles nicht mehr erkennen konnte. Das lyrische Ich, Seumes Landschaft bereisend und dabei sich an eine wohl vergangene Liebe erinnernd, an die Geliebte vielleicht ins Leere hinein sprechend, rekapituliert zunehmend ungewiss das, was von Seumes Vergangenheit und der seinen blieb. Die Frage, ob sich aus den Tatsachen eine Lehre ziehen lässt, bleibt ohne Antwort. Anlass der Erinnerung überhaupt ist, so erfährt man im letzten Vers, dass die eigene Brille zerbrach. Vieles bleibt nun wohl auf immer unerkannt, ungewusst, unzugänglich.

Damit sind im Titelgedicht wesentliche Motive des ganzen Bandes angesprochen.

Das betrifft erst in zweiter Linie das Gesellschaftliche, das freilich immer wieder zur Sprache kommt. Der engagierte Dichter Czechowski verklärt die DDR, in der er lebte, genauso wenig wie er zum Lobredner der Gegenwart wird. Dem "Leben / Im Dämmerlicht / Einer Volksherrschaft / Der Funktionäre" stellt er im Gedicht "Die siebziger Jahre" ein kaum ermutigendes Bild dessen entgegen, was danach kam: "Jetzt / Vor den Schaufenstern Frankfurts, / Zähle ich meine Groschen / Und gedenke der Zeit / Der ich entronnen bin, / Um mein Gnadenbrot / Unter blankem Himmel / Zu essen."

"Das Leben aber / War, wie immer, / Konkret" heißt es, "Liebe und Haß, / Alkohol, zerborstene / Windschutzscheiben und überhaupt: / Die ewig ungeregelte Ersatzteilfrage, / Die uns zermürbte." Im Notat des Konkreten also findet sich das hier durchaus bebrillte Ich, das auf dieser Ebene eine gewisse Stabilität zu erlangen vermag: "Mein Leben / Ist im Verklingen begriffen, Sachsen im Herzen, / Im Herzen der Welt, bleibe ich der / Der ich immer gewesen bin, egal, / Ob mich die Ideologie des Geldes beherrscht / Oder die, die ich einst, ahnungslos / Als die eines besseren Landes besang", lautet es in einem anderen Gedicht.

Zuviel ist zwar das entschuldigende "ahnungslos", das andeutet, Hoffnungen auf die DDR wären nicht historisch legitim oder doch erklärbar gewesen und irgendeine finstre Macht habe das arme Ich verführt. Die sozialistischen Länder waren nicht gut, die Welt aber ohne sie, mit Sozialabbau und Kriegen, ist schlechter; Grund zur Distanzierung also gibt es nicht. Die Kursivierungen aber zeigen eine doppelte und andere Distanz, von der ideologischen wie von der folkloristischen Formel, und deshalb gewinnt sie wiederum an Legitimität: Indem das Ich sich durch solche Äußerlichkeiten bekräftigt, her- und darstellt.

Viele der Gedichte in "Seumes Brille" sind ortsgebunden. Vor literarhistorischen Reminiszenzen und den von äußerlichen Zufällen abhängigen Stationen einer Lesereise sind es Erinnerungsorte, sehr privaten Charakters zumeist, die es erlauben, das Ich als geschichtlich zu zeigen: geschichtlich als eine Kindheitserinnerung, die vom Individuellen ins Zeittypische übergreift ("Augustusweg"), oder als eine "Gartenszene", in der Kinder den Krieg spielend überstehen - ihn kriegspielend überstehen; individualgeschichtlich als Erinnerung als Begegnungen, an Lieben, erfüllte und unerfüllte - soweit sich allgemeine und individuelle Geschichte säuberlich trennen lassen.

Überhaupt herrscht der Blickwinkel der Erinnerung vor. Ein gealterter Mann schaut ohne viel Freude auf sein Leben zurück: "Ist man nicht alt geworden / Ohne jemals jung gewesen zu sein?" Völlig unsentimental wischt Czechowski das Klischee von der Schönheit des reifen Alters beiseite und spricht so unaufdringlich wie direkt Momente sexuellen Begehrens an, die nur noch ausnahmsweise und im genießenden Blick Erfüllung finden. Hier ist der nüchterne Ton hervorzuheben, der in diesem Kontext selbst einem scheinbar so obsolet gewordenen Wort wie "Gnade" seinen Sinn zurückgewinnen lässt.

Die genaue, skeptische, vielfach traurige Selbstbeobachtung ohne Selbstmitleid schützt vor Peinlichkeit. "Warum / Fahr ich noch immer nach Limburg, / Wo ich der Liebe entsagte? Nie / Und nimmer werde ich finden die Spur." Der Ort der Erinnerung vermag nicht einzulösen, worum es dem Ich geht, und bleibt doch unverzichtbar; ob denn tatsächlich der Liebe entsagt wurde, mag durch die Fahrten fraglich erscheinen. Verzicht ist nun gerade nicht Sache dieses Ich; sondern dass es immer noch will, das macht, stets aus Konkretem entwickelt, die Vitalität dieser Gedichte aus.

Dabei formuliert Czechowski an mehreren Stellen durchaus Skepsis gegen Stellenwert und Wirkung der Poesie: "Das Wunderbare der Poesie / Ist nichts als eine der schönen / Illusionen, die Zeit zu besiegen." Das Schreiben zudem sei "nichts / Als der Versuch, ein Irrlicht zu bannen, / Das überm Stadtgottesacker tanzte und tanzt". Diese Wendungen führen weitaus eher ins Zentrum der Arbeit Czechowskis als die ja durchaus zutreffende und durch die Schlussstellung im Band hervorgehobene Klage, mit der Niederlage der zuletzt abgelehnten DDR sei ihm auch das Publikum verloren gegangen, in "Deutschlands Osten, wo kein Mensch / Noch meine Bücher liest". Derlei Äußerlichkeiten, wie bedeutend auch immer für den Autor, dem sein Resonanzraum verloren ging, treten zurück hinter der radikalen Infragestellung des Ichs, das hier spricht.

Indem der Wert der Poesie fraglich wird, wird ein Lebenswerk fraglich; im Schreiben als Versuch zu bannen würde das Konkrete, Irrlichternde fassbar und getötet zugleich. Gelingendes Schreiben bedeutete damit für das Ich, das für sich sagt: "Das Nichts / War mein bester Begleiter", das Ende des Gelingens. Wo der Zerfall des Ich anschaulich würde, da hingegen wäre das Gedicht gelungen. Czechowski fasst das ins wohlformulierte Paradox: "Mitunter / Verfolge ich mich, ein Jäger, / Der dem Gejagten entkommt." Im voranstehenden Gedicht ist ein Schlüssel geliefert: "Du / Hast kein Ziel, dein letztes / Unterkommen: die Angst / Vor dir selbst." Sich, auch begrifflich, auf das fremd gewordene Ich zu beziehen, stabilisiert es zugleich, ist Erkenntnis und Schutz in einem.

Hier stellt sich Czechoskis lyrischer Traditionalismus als höchst reflektiert heraus. Nicht weil ein lyrisches Ich als unproblematisch vorausgesetzt würde, sondern weil es seine Problematik möglichst genau zu fassen gilt, sind sprachliche Experimente vermieden. Zwar nähern sich die Gedichte, denen Reim und fast stets das Metrum fehlen, der Kurzprosa; und manche Verseinteilung wirkt willkürlich. Indem aber stets das Gemeinte nüchtern umrissen ist, dienen die Texte der Erkenntnis. Identifikation braucht es hier nicht. Man muss kein alter Mann sein, man muss auch nicht mit Resignation kämpfen, um die Gedichte mit Gewinn zu lesen. Wie Czechowski objektiviert, mit und im Bewusstsein dass eigentlich nicht zu objektivieren ist, so erfährt und überprüft der Leser eine Haltung, die in vielen Jahren vielleicht die seine wird, die Illusion vom dauernden jugendlichen Genuss jedoch jetzt bereits stört. Jugendglück überhaupt ist Werbestrategie und im seltensten, im konkreten Moment Erlebnis; gemeinhin wird es verfehlt, wovon die Verwicklungen der billigsten Vorabendserie zeugen. Czechowskis retrospektive Lyrik stört die Illusion und befreit dadurch vom Zwang zum Glück; gleichzeitig bezeugt sie, dass das Streben nach Glück bleibt. Dadurch demonstriert sie Lebenskraft; dahingestellt sei, ob es tröstet oder erschreckt, dass jene Kraft nicht schwindet. Die Beschreibung ist stets genau; die Brille nicht vergessen, vielleicht zerbrochen - doch weiß Czechowski den Moment zu fassen, in dem die Brille zerbricht, und dadurch bewahrt er sie.

Titelbild

Heinz Czechowski: Seumes Brille. Gedichte.
Grupello Verlag, Düsseldorf 2002.
75 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3933749662

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