Kein Glück im Winkel

Andreas Schendels Roman über eine Liebe im besetzten Paris

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2000 debütierte Andreas Schendel nach zwei Kinderbüchern mit dem Roman "Leuchtspur", der wie viele Erstlinge junger Autoren den eigenen Loslösungsprozess vom Elternhaus, die Phase der intellektuellen und erotischen Alphabetisierung, thematisiert. Sein zweiter Roman "Fluchtpunkt", der den Untertitel "Geschichte einer Liebe" trägt, hat sich von den autobiographischen Zügen weitgehend emanzipiert und ein historisches Sujet gewählt. Die Entstehung der beschriebenen Liebe verdankt sich einem Wolkenbruch, der den im Herbst 1936 durch Paris flanierenden Sam in einen erleuchteten Pavillon getrieben hat, wo eine Kunstausstellung stattfindet. Im Flur, wo er scheu verhält, lernt er die Malerin Signe kennen, deren Bilder hier platziert wurden, damit die Wände nicht leer blieben. Zwischen ihnen entwickelt sich eine zarte Liebesbeziehung, die vielleicht noch dadurch intensiviert wird, dass beide allein und als Fremde nach Paris gekommen sind. Samuel Weldon stammt aus Irland und hat ein Stipendium zur Vervollkommnung seiner Französischkenntnisse erhalten, Signe Harsun hat es aus Norwegen in die Hauptstadt der Kunst gezogen, die Paris 1936 noch war. Sie ziehen nach einiger Zeit zusammen und ihr Glück steigert sich noch, als ihnen der Nachbar Thomas Blum die kleine Bekka, seine Nichte, zum Spielen und Vorlesen überlässt. Bekkas Eltern sind deutsche Juden, und während sie im Sommer 1939 in Paris illegal Unterschlupf findet, wird ihr Bruder Georg bei einer Familie in Amsterdam versteckt. Dies ist der zweite wichtige Handlungsort in Schendels Roman. Im Mittelpunkt steht hier das Milieu des Widerstands, der sich nach der deutschen Besatzung formiert. Einer der Widerständler, Max Goedhart, der eher aus Eifersucht als aus politischen Motiven einen gescheiterten Anschlag auf einen SS-Mann verübt hat, muss verschwinden und erhält Blums Adresse. Was dann geschieht, lässt sich nur erahnen. Jedenfalls finden Sam und Signe eines Tages die Leichen von Blum, Bekka und eines ihnen Unbekannten in ihrer Wohnung. Die herabgelassenen Hosen von Goedhart deuten auf ein versuchtes Verbrechen hin. Als die Gestapo sich für den Fall zu interessieren beginnt, flüchten Sam und Signe nachts mit dem Fahrrad aus Paris Richtung Süden. Es gelingt ihnen zu entkommen und den Krieg zu überstehen, aber ihr Leben hat einen unheilbaren Riss.

Schendel hat die Chronologie dieser Ereignisse in eine verschachtelte Erzählweise aufgelöst. Die Hauptquelle bilden Sams Tagebucheinträge nach Bekkas Tod im Juli 1942. Dazwischen stehen Passagen, in denen Szenen des gemeinsamen Lebens in Paris oder Geschehnisse in Amsterdam geschildert werden. Der Briefverkehr zwischen den Geschwistern sowie Blums Berichte an Bekkas Vater sind ein weiteres erzählerisches Mittel, um die Perspektiven zu erweitern. Weiterhin gibt es Rückblenden auf die familiäre Herkunft von Sam und Signe. Als Kommentarebenen zum Romangeschehen fungieren schließlich die von Sam notierten Träume und seine Besuche von Chaplin-Filmen. All diese Elemente sind in einer ebenso überzeugenden wie raffinierten Form arrangiert und laufen dem Autor nirgends aus dem Ruder. Schendel verfügt trotz seines jugendlichen Alters über eine beeindruckende Souveränität des Erzählens; es ist bewundernswert, mit welcher Sicherheit er über ein beträchtliches Romanpersonal gebietet und noch jeder Nebenfigur Plastizität verleiht. Besonders anrührend ist, mit welchem Feingefühl er die Liebe zwischen Sam und Signe zeichnet, wie er in den Alltag ihrer Beziehung kleine Gesten der Zärtlichkeit und vertraute Bemerkungen einfließen lässt. Lange kann sich auch ihre Privatsphäre als Hort der Heiterkeit gegen die immer näher rückende düstere Geschichte behaupten, aber letztlich, daran lässt Schendel keinen Zweifel, machen die Monstrositäten des 20. Jahrhunderts ihr Glück zuschanden. Bei aller Dichte, die der Roman besitzt, gibt es dennoch einzelne Szenen, die einem besonders im Gedächtnis haften bleiben. Dazu zählt etwa die nächtliche Flucht aus Paris, als Sam und Signe auf einmal einem deutschen Soldaten gegenüberstehen und ihr Leben am seidenen Faden hängt. Der entnervte Soldat aber, einziger Überlebender einer vom Maquis überfallenen Patrouille, richtet die Waffe am Ende gegen sich selbst. Am vorläufigen Ende ihrer Flucht, als der durch einen Fahrradunfall verletzte Sam sich Hilfe suchend zu einem Lastwagen des Roten Kreuzes begibt, spielt Schendels Roman noch mit einer literaturgeschichtlichen Allusion. Die Szene ruft ein Foto von Samuel Beckett ins Gedächtnis, das ihn im Sommer 1945 als Rotkreuzhelfer in Saint-Lô an einem Lastwagen lehnend zeigt. Von dieser Szene her fällt auch ein Licht zurück auf Sams Passion für das Fahrradfahren durch die französische Metropole.

Sam, der wohl nicht zufällig irischer Abstammung ist, bewegt sich sozusagen auf Becketts Spuren, und das gilt in einer bestimmten Hinsicht auch für seinen Autor Andreas Schendel. Es fällt nämlich bei einem vergleichenden Blick auf "Leuchtspur" und "Fluchtpunkt" ins Auge, dass beide Romane ihren erzählerischen Impuls aus einer Leerstelle beziehen. Im Falle von "Fluchtpunkt" ist es der mysteriöse Mord an Bekka, dessen Beschreibung der Roman ausspart und dessen Verlauf lediglich um-schrieben, von den mitgeteilten Handlungselementen quasi konstelliert wird. Bei "Leuchtspur" nimmt diese Leerstelle die Szene ein, die zur Trennung zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Freundin Maike führt. Auch hier tappt der Leser im Dunkeln. Es lässt sich nur erahnen, dass Maike beim gemeinsamen Betrachten der Filmaufnahmen aus der Kindheit des Protagonisten ein Missgeschick unterlaufen ist, das das Bilddokument vernichtet hat. Dieses Schreiben aus der Leere heraus, dieses Um-Schreiben des Absenten erinnert natürlich an die Grundstruktur von Becketts "Warten auf Godot" oder sein "Endspiel".

Titelbild

Andreas Schendel: Fluchtpunkt. Geschichte einer Liebe. Roman.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2002.
312 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3312002974

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