Kreuzbrave Langeweile

René Schickele bleibt ein vergessener Autor

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn es Goebbels gelingt, unsere Namen von den deutschen Tafeln zu löschen, sind wir tot [...] Schon die nächste Generation wird nichts mehr von uns wissen". Das schrieb René Schickele am 11. Dezember 1933, und leider bestätigte sich seine Vermutung. Es wird sicher noch einige Elsässer geben, manchen Literaturliebhaber natürlich und ein paar auf das frühe 20. Jahrhundert spezialisierte Germanisten und Historiker, die die Bücher René Schickeles kennen und womöglich sogar schätzen. Vom deutschsprachigen Buchmarkt sind die Werke dieses 1883 in Oberehnheim (Obernai) im Elsass geborenen Schriftstellers seit langem so gut wie verschwunden, und nur bei besonderen Anlässen erinnert man sich seines Namens. Die 1996 in Augsburg, Düsseldorf und Lübeck gezeigte Ausstellung über die deutschsprachige Exilliteraten-Szene in Sanary-sur-Mer war so ein Anlass, wenngleich Schickele auch dort eher am Rande blieb - wie eigentlich überall, auch in der neueren Exilforschung seit den sechziger Jahren. Dabei war René Schickele, der sich Frankreich und Deutschland zugehörig fühlte, dessen Muttersprache das Französische war und der die meisten seiner Werke in deutscher Sprache verfasste, ein bedeutender Lyriker, Prosaist und Essayist, ein Dramatiker dazu, ein vielseitiger Journalist und nicht zuletzt ein Freund und Briefpartner berühmter Männer und einflussreicher Frauen. Man muss ihn nicht zur allerersten Garnitur der Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts rechnen, um ihm Anerkennung und Respekt entgegenzubringen.

Seine frühesten Essays, die zur Konturierung des später von Ernst Stadler so genannten "geistigen Elsässertums" beitrugen, erschienen bereits ab 1899, und seine ersten, einem zeittypischen Jugend-Vitalismus frönenden Gedichte finden sich schon 1902 gesammelt und gebunden auf dem Buchmarkt. René Schickele studierte in Straßburg, München, Paris und Berlin, in erster Linie Literaturgeschichte und Philosophie. Er wechselte oft seinen Wohnsitz, reiste viel umher - später gelangte er bis nach Indien -, schrieb prägnante politische Reportagen aus Paris, aber auch - ungefähr ab 1910 - eindrucksvolle expressionistische Gedichte und Skizzen. Wie viele andere Expressionisten hoffte er 1914, der Krieg werde die alte monarchisch-autoritäre Welt vernichten und eine neue, gerechte und friedlich-sozialistische hervorbringen; während der meist in der Schweiz verbrachten Kriegsjahre jedoch wandelte sich Schickele, inzwischen Herausgeber der "Weissen Blätter", zum engagierten Pazifisten. Er versuchte sich auch nach 1918 in so gut wie allen literarisch-journalistischen Genres und gelangte besonders in den zwanziger Jahren als Romancier, Lyriker, Essayist und Vortragsreisender zu Erfolg und Ansehen. Früh erkannte er die bedrohliche Geistfeindlichkeit des aufkommenden Nationalsozialismus, und weil er 1932 aus politischen wie gesundheitlichen Gründen nach Südfrankreich zog, gilt er als allererster Exilautor - allerdings als seltener Fall eines Exilanten im eigenen Land. Seine besten Zeiten waren da schon vorüber; Schickele hatte mehr und mehr finanzielle Sorgen, er war oft krank und zunehmend verbittert, wenn auch nicht ohne glückliche Stunden. Er versuchte einfach weiterzumachen, und es gelangen ihm noch einige seiner besten Werke, etwa die Romane "Die Witwe Bosca" (1933) und "Die Flaschenpost" (1937). Bald nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, der eine Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, das ihm seit seiner Jugend wohl wichtigste Anliegen, auf lange Sicht unmöglich zu machen schien, starb René Schickele. Als Schriftsteller war er durch recht verschiedene Literaten-Phasen gegangen - immer aber agierte er als kosmopolitischer, allem Totalitären abholder Elsässer und als solcher als eingefleischter Humanist und Europäer. Seine Romantrilogie "Das Erbe am Rhein" (1925 ff.) galt nicht nur Thomas Mann als das Standardwerk der elsässischen Seele, und man kann sich auch heute noch mit Gewinn darin verlieren.

Wer dieses Dichters Leben und Werk in Erinnerung rufen will, wie das der in Schickeles Todesjahr 1940 geborene und seit langem in Los Angeles lehrende Germanist Hans Wagener in seiner äußerst material- und faktenreichen, mit Akribie und Fleiß erarbeiteten Biografie versucht, müsste dazu in der Lage sein, etwas von Schickeles Aura und Charme, von seinem zeitweiligen Ruhm, vom Glanz seiner Epoche und vom noch reichlicher vorhandenen Elend seines Lebens auf anschauliche und lebendige Weise einer Leserschaft mitzuteilen, die sich vermutlich kaum nach diesem Lektürethema gesehnt hat und deren Neugier auf René Schickele erst einmal geweckt werden will. Aber ach! Hans Wagener kann sich leider nicht entscheiden, ob er seinen Autor dem Lesepublikum des 21. Jahrhunderts schmackhaft machen will oder ob er nicht lieber doch Kollegen, Archivare und Doktoranden beglücken möchte - und es steht zu vermuten, dass er, obwohl Autor mehrerer Monografien über Autoren des 20. Jahrhunderts, ersteres sprachlich und stilistisch gar nicht kann. So muss sich der Leser, der einem schillernden und faszinierenden Schriftsteller begegnen möchte, mit kreuzbraver und auf Dauer in höchstem Grade ermüdender Professorenprosa herumquälen. Außer Wageners sprödem Beamtendeutsch stört sein die "political correctness" überbetonender, reichlich moralinsaurer Ton - und nicht zuletzt auch manch überflüssige Wiederholung, die man ihm gerne zugunsten einer leider nicht vorhandenen Zeittafel herausgestrichen hätte. Und gelegentlich artet seine Darstellung in die schon fast sprichwörtliche Fliegenbeinzählerei aus, der es wichtiger ist, an welchem Wochentag und zu welcher Uhrzeit Schickele ein Manuskript abgeschickt hat, als dass man von seinem Inhalt und dessen Wert für die Mit- oder gar Nachwelt erführe. In fünf Kapiteln - "Elsässischer Rebell", "Literat und Journalist", "Pazifist und Sozialist", "Deutscher Schriftsteller" und "Exilant im eigenen Land" - erfährt der geduldige Leser alles über einen Autor, den er trotzdem nicht kennenlernt. Schickeles getreulicher Biograf, der so viel über den Autor weiss, verführt den Leser jedenfalls nirgendwo dazu, sich intensiver in eines der Werke dieses Dichters zu vertiefen - eine Gelegenheit wurde versäumt. Hans Wageners Biografie wird in den Regalen germanistischer Institutsbibliotheken verstauben, und René Schickele wird bedauerlicher- und vermeidbarerweise weiterhin ein vergessener Autor bleiben.

Titelbild

Hans Wagener: René Schickele. Europäer in neun Monaten.
Bleicher Verlag, Gerlingen 2000.
318 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3883506672

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