Frankensteins kleine Brüder
Drei Miniaturen der Schauerromantik aus der Feder Mary Shelleys
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZwar sei der Name der Autorin nicht unvergessen, doch ihr Œuvre - sechs größere Romane, Dramen, Reiseberichte, zahlreiche Gedichte und nicht zuletzt über dreißig Essays, Rezensionen und Erzählungen - sei heute "gänzlich unbekannt". Eine paradox klingende, aber zweifellos zutreffende Klage, die Alexander Pechmann führt. Denn fraglos ist Mary Shelley auch hier zulande nicht nur den Fachgelehrten der Anglistik als Verfasserin des zu Unrecht als Schauerroman bezeichneten Werks "Frankenstein" bekannt, dem ebenso kanonisierten wie weithin ungelesenen Hauptwerk der Autorin. Sofern Frankensteins Ruhm über eine Bildungselite hinausreicht, wird er wohl eher den zahlreichen Verfilmungen des Stoffes zu danken sein als einer Lektüre von Shelleys Roman, allen voran derjenigen mit Boris Karloff in der Rolle - nicht Frankensteins, sondern des Monsters.
Andere Werke aus der Feder Shelleys sind zumindest hierzulande nicht einmal dem Titel nach bekannt. Die historische Novelle "Valperga" ist beim deutschen Lesepublikum ebenso wenig angekommen wie der im 21. Jahrhundert angesiedelte Dystopie "The last Man" oder die Erzählungen "Verwandlung, "Der falsche Vers" und "Die Trauernde". Dies soll nun anders und zumindest für die genannten Erzählungen nachgeholt werden und wird dadurch erleichtert, dass sie von Alexander Pechmann übersetzt - zwei von ihnen erstmals - und in einem ansprechenden Bändchen angeboten werden. Miniaturen, von denen sich schnell zeigt, dass sie mehr sind als nur Frankensteins kleinere Brüder. Die Autorin findet in ihnen nicht nur zu schönen Bildern, sondern hält auch überraschende Wendungen bereit. So etwa, wenn ein Teufel sich als Schutzengel erweist. Erzählt Shelley unter dem Titel "Verwandlung" vom "Überschwang bösen Stolzes" und der "wilde[n] Tyrannei" der Leidenschaften, so zeigt sich die abschließende und mit 40 Seiten umfangreichste Erzählung "Die Trauernde" voller Todessehnsucht und führt die Lesenden in die "süße Stimmung, da angenehme Gedanken an traurige erinnern". Nicht mehr als sechs Seiten umfasst hingegen das Stück "Der falsche Vers". Stritten Hera und Zeus, ob Mann oder Frau mehr Lust beim Geschlechtsakt empfänden, so wettet hier ein königliches Geschwisterpaar, welches Geschlecht das treuere sei. Wie kaum anders zu erwarten, erweist sich die wahrhafte Treue an einer Frau. Ob allerdings Mary Wollstonecraft, Mutter der Autorin und führende Feministin ihrer Zeit, an der Art des Treue-Erweises Gefallen gefunden hätte, mag bezweifelt werden, und dass der Herausgeber meint, die Heldin der Erzählung übernehme die Rolle, die "traditionell einem männlichen Märchenhelden überlassen" bleibe, ist nur schwer nachvollziehbar.
Die Wiederentdeckung von Shelleys Werk sei mehr als 150 Jahre nach dem Tod der Autorin "überfällig", begründet Pechmann die Herausgabe der Erzählungen. Recht hat er! Bleibt zu hoffen, dass sich das Bändchen als ein erster Schritt hierzu erweist und ihm bald weitere Editionen folgen werden.
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