Im Auge des Tigers
Emmanuèle Bernheims neuer Roman
Von Martin Gaiser
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVier Jahre sind vergangen, seit "Der rote Rock", Emmanuèle Bernheims vierter Roman, erschienen ist. Nun liegt wieder eines jener eigenartigen dünnen Bücher vor, die es wohl nur von dieser Autorin gibt; und sie scheint immer noch konsequenter zu verknappen, ohne dabei auf Inhalt und vor allem auf Qualität verzichten zu müssen.
Lise heißt ihre aktuelle Protagonistin, "Stallone" das Buch. Lise ist Arzthelferin in Paris. Eines Abends sieht sie sich mit Bekannten und ihrem Freund Michel "Rocky III - Im Auge des Tigers" mit Sylvester Stallone im Kino an. Um es kurz zu machen: Der Film verändert ihr Leben. Keine Floskel, es ist so. Sie geht nicht mehr mit in die Kneipe, nimmt nicht wie üblich die Metro, beschließt, ihren Job aufzugeben und das unterbrochene Medizinstudium zu beenden. Ihre Eltern reagieren mit Unverständnis, Lise ist das egal. Der Wille zum Erfolg, der Wille zum Kampf, das Nicht-aufgeben und das Sich-nicht-aufgeben, das der Film ihr vermittelt hat, wird für Lise zur treibenden Kraft. Das Lied "The eye of the tiger", von dem sie die Single erwirbt, zur Begleithymne ihres neuen Lebens.
Sie wird Ärztin, arbeitet viel, bleibt häufig für sich.
Dann beginnt sie mit dem Boxen. Auch das gelingt ihr mit viel Wille und Ausdauer; die sie anfangs belächelnden Männer im Sportclub beginnen, sie zu akzeptieren. Und eines Tages lernt sie Jean kennen, der die Liebe ihres Lebens wird. Mit ihm ist Lise glücklich, sie haben zwei Jungs, Thomas und Antoine. Doch Lise hat ein Geheimnis: Sie sieht sich noch immer jeden Film mit Sylvester Stallone im Kino an, erfindet Ausreden und Notlügen, geht einmal sogar im achten Schwangerschaftsmonat noch in "Rocky V". Doch dann wird sie unruhig, denn die Filme werden immer schlechter, Stallones Karriere scheint in einer Sackgasse festzustecken. Lise macht einen Plan und handelt ...
"Stallone" ist in jeder Hinsicht ein unglaubliches Buch. Die Autorin, deren Arbeit an Fernsehdrehbüchern ganz offensichtlich ihren extrem ökonomischen Stil geprägt hat, erzählt in diesem Bonsai-Roman ein ganzes Erwachsenenleben, ohne dass man den Eindruck hat, etwas Wesentliches wurde ausgespart. Natürlich ist "Stallone" nicht eingebettet in soziale und politische Veränderungen, man erfährt nichts über den Lauf der Welt. Doch man erfährt sehr viel von Lise, ihrer Haltung, ihren Absichten. Und es ist unglaublich, weil die Fantasie der Autorin dem Buch eine Wendung gibt, die verblüfft und erstaunt. Die 96 Seiten sind dabei keineswegs eng bedruckt, im Gegenteil: Manche sind nur zur Hälfte, einige wenige gar nur mit einem Satz bedruckt. Und das ist vielleicht das Problem dieses Buches: Es ist zu dünn, zu kurz. Die Autorin, deren Buch "Der rote Rock" in Frankreich ein Bestseller war, schreibt so gut und anregend, dass man mehr davon lesen möchte.