Würden Sie es tun?

Schlag nach bei Luhmann: Wer als Ermittler vor die Wahl von Leben und Tod gestellt wird, für den ist ein Folterfall unentscheidbar, doch das Recht erfordert Grenzen

Von Walter GrasnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Grasnick

Bush wolle den Krieg, Schröder nicht. So war es vor dem Angriff der Alliierten bei AOL zu lesen. Angereichert um die wahrhaft umwerfende Frage: "Wer hat recht?" Das nächste gazetten- und kanälefüllende Beispiel: Ist Foltern erlaubt? Die einfache Antwort mit einem Wort: Nein! Nachzulesen auch in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Nur, damit ist so gut wie nichts gewonnen. Auch Töten ist verboten. Einen anderen körperlich zu verletzen ebenfalls. Der ganze weite platonische Himmel hängt voller Verbote und Gebote. Wer sie aufgeklärter anderswo sucht, findet auch nur Abstrakta.

Deshalb bedarf zum Beispiel das Verbot "Du sollst nicht töten" - wie alle Verbotsnormen, wenn sie denn wirklich wirken sollen - jeweils kontextspezifischer Konkretisierung. Das wissen wir spätestens seit der allgemein anerkannten Sterbehilfe durch lebensverkürzende Schmerzlinderung.

Doch auch mit fallspezifischen Verhaltensnormen ist es "im Ernstfall" nicht getan. Sanktionen müssen her. Die - nach verbreiteter Meinung - schwersten sind die Strafen, die gegebenenfalls zu verhängen den Richtern obliegt. So steht es in den Strafgesetzen.

Indessen: Selbst die Strafgesetze für sich genommen sind nicht geeignet zu leisten, was die Bürger von ihnen erwarten. Wozu brauchten wir sonst Kommentare, wo wir doch die Gesetze haben? Und so machen sich denn die Kommentatoren, Strafrechtswissenschaftler überhaupt, fleißig ans Werk, die gesetzlichen Begriffe allererst einmal zu klären. So arbeiten sie den Richtern zu, die selbstredend auch ihrerseits die Gesetze erst auslegen, ehe sie diese anwenden. Und ohne sie, die Richter, läuft am Ende eben überhaupt nichts. Recht ist allemal und notwendig Richterrecht. Das fängt an, sich herumzusprechen. Wenn auch längst noch nicht überall. Diese Debatte kann hier nicht vertieft, wohl aber angeregt werden, sie gründlich weiterzuführen. Der Frankfurter Fall gibt dazu traurigen Anlass. Der wird zu vielem genutzt. Darunter zu manchem Unguten. Zum Glück fehlt es aber auch nicht an seriösen Stellungnahmen.

Eine der besonders aufschlussreichen stammt von dem Strafrechtler, Rechtstheoretiker und Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer. In einem Interview im Lokalteil dieser Zeitung wurde er zu Recht als erstes gefragt: "Wie definieren Sie Folter?" Dazu Hassemer: "Folter ist die Einwirkung auf einen Menschen in einem laufenden Strafverfahren unter Einsatz von Gewalt oder Drohung, mit dem Ziel, ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen. Rechtlich betrachtet, schützt das Folterverbot nicht die Gesundheit, sondern die Menschenwürde. Das bedeutet, dass kein Druck auf den Betroffenen ausgeübt werden darf, der ihn vom Subjekt zum Objekt des Verfahrens macht." (Hervorhebung vom Verfasser). Dass Hassemer ganz konkret vom "laufenden Strafverfahren" spricht, bringt in die Folterdebatte eine erfreuliche, weil notwendige Klarstellung. Der Beschuldigte darf nie und nimmer zum Objekt herabgewürdigt werden. Er ist frei und muss frei bleiben, selbst zu bestimmen, ob und gegebenenfalls, was er aussagt. Dem Zeugen geht es nicht ganz so gut. Er kann notfalls sogar in "Beugehaft" genommen werden, um seine Aussage zu erzwingen. Mehr aber darf auch ihm nicht passieren.

So gesehen fungiert die Folter allein als absolut verbotene Vernehmungsmethode. Doch in Frankfurt wurde sie gerade nicht angedroht, um den Kindesentführer und Erpresser in dem gegen ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahren, also in einem "laufenden Strafverfahren", als Beschuldigten zu einer Aussage zu zwingen.

Mitten im Verhör des Entführers wechselte die Strategie

Die Polizei hatte, wenn nicht die Pferde, so doch den Karren gewechselt. Es ging jetzt nicht länger um Strafverfolgung, sondern allein um Gefahrenabwehr. "Jetzt" meint, von dem Augenblick an, als die Beamten fürchteten - und nach Lage der Dinge auch fürchten mussten, das Leben des Kindes stehe auf dem Spiel. Der entführte und an einem unbekannten Ort versteckte Jakob von Metzler schwebe in akuter Lebensgefahr. Ihn zu retten war fortan das Ziel polizeilichen Handelns. Und nichts sonst.

Gewiss würde, wenn der Täter das Versteck verriete, das auch Auswirkungen haben auf ihn und seinen Prozess. Genauer und richtiger: für ihn. Denn er sollte ja gerade nicht seine Schuld eingestehen - die war den Ermittlern zu diesem Zeitpunkt, jedenfalls in ihrer Vorstellung, bereits bekannt-, vielmehr in allerletzter Minute das Seine tun, sein Schuldkonto nicht obendrein mit dem Tode des Opfers zu belasten. Hier von Aussageerpressung zu sprechen ist völlig verfehlt, der reißerische "Stern"-Titel "Folter im Verhör" irreführend und falsch.

Nun gibt es andererseits zweifellos gute Gründe, das Folterverbot nicht auf Strafverfahren zu beschränken. Ob es in jedem denkbaren Falle die besten sind, auch darüber wird noch zu streiten sein. Möglichst - auch wenn das begreiflicherweise schwer fällt - nicht emotionsgeladen, sondern sachlich argumentativ.

Diese Ebene aber verfehlt, wer, um das Folterverbot einschränkungslos durchzusetzen, seinerseits eine intellektuelle Folter platziert. Indem er ein uneingeschränktes Denkverbot erlässt. Und ausnahmslos alle diffamiert, die es wagen, das Undenkbare dennoch zu denken. So Heribert Prantl in der "Süddeutschen Zeitung". Er meint, "die Diskussion über eine begrenzte Zulassung der Folter, die seit nunmehr drei Wochen in Deutschland intensiv geführt wird, (sei) ein Indiz für zivilisatorische Regression". Und fügt, damit es die Geächteten noch qualvoller schmerzt, eigens hinzu: "Das Bewußtsein für Zivilität und Humanität rostet."

Für wie verrostet maß ihm da erst post mortem das Bewußtsein Luhmanns vorkommen, der eine Debatte der Art, die

Prantl an den Pranger stellt, schon vor ziemlich genau zehn Jahren nachdrücklich angeregt hat. Ohne nachhaltigen Erfolg. Was sich bitter rächt. Niklas Luhmann wollte seinerzeit in einem Vortrag wissen, ob es "in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen" gibt. Er begann in üblicher Juristenmanier mit einem Fall, und zwar mit dem - wie lange noch? - fiktiven Fall eines höheren Polizeioffiziers, der den Führer einer Terroristengruppe gefangen hat. Luhmann fährt fort: "Sie könnten, wenn Sie ihn folterten, vermutlich das Leben vieler Menschen retten - zehn, hundert, tausend... Würden Sie es tun?"

Der Soziologe und Jurist, der Denker Luhmann hatte keine fertige Antwort parat. Auch am Ende seines Vortrags nicht. Aber er gibt Ungeheures zu bedenken. Nämlich "ungeachtet aller legalistischen Bedenken auf Grund von Artikel 1 Grundgesetz etwa" dieses: "Zulassung von Folter durch international beaufsichtigte Gerichte, Fernsehüberwachung der Szene in Genf oder Luxemburg, telekommunikative Fernsteuerung..." Dann folgt das resignative Eingeständnis: "Insgesamt keine sehr befriedigende Lösung. Aber es befriedigt ja auch nicht, wenn man gar nichts tut und Unschuldige dem Fanatismus der Terroristen opfert." Bleibt hinzuzufügen: oder einen Unschuldigen seinem Mörder.

Wir fragen deshalb erneut: Ist Folter zulässig zum Zwecke der Gefahrenabwehr, zur Vorbeugung von Verbrechen, hier: dem Mord an Jakob von Metzler? Dabei Prantls Verdikt nicht scheuend, der schlicht und einfach dekretiert: "Das ist Unfug."

Luhmann wusste es besser. Der Heidelberger Öffentlichrechtler und Rechtsphilosoph Wilfried Brugger meinte schon vor Jahren - anders als Luhmann -, sehr wohl eine, zudem noch eindeutige Antwort zu wissen. Ein Umstand, der Prantl so in Harnisch bringt, dass Brugger bei ihm, geläufigen Regeln korrekten Zitierens zuwider, wiederholt nur "Der Professor" heißt.

Doch wir werden auch unsere Streitkultur noch brauchen. Erst recht, wenn uns die Probleme, die heute bereits so bedrückend sind, eines nicht mehr fernen Tages in noch ganz anderen Dimensionen heimsuchen. Luhmann hat die wohl denkbar schlimmste Variante bereits durchgespielt: "Terroristen haben eine Atombombe, und es kommt darauf an, diese zu finden und unschädlich zu machen." Er lässt auch diesmal nicht locker und insistiert: "Würden Sie foltern?" Brugger würde. Und dies sogar im vorliegenden realen Fall.

Walter Jens hat in diesen Tagen von sich gesagt, er sei "zwar ein konsequenter, aber kein absoluter Pazifist". Das trifft analog auf Brugger zu. Er ist einerseits gewiss ein konsequenter Gegner der Folter, erkennt andererseits aber ein absolutes Folterverbot nicht an. Wobei auch er wieder - zumindest im Ansatz nach wie vor zu Recht - differenziert zwischen den beiden polizeilichen Aufgaben der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr. Wenn überhaupt, dann dürfen Ausnahmen vom generellen Verbot nur bei letzterer anerkannt werden.

Unter welchen näheren Bedingungen und besonderen Einschränkungen Brugger sie zulassen will, ist hier nicht zu referieren (RA.Z. vom 10. März). Daß es in argumentativer Strenge auf wissenschaftlichem Niveau unter Berücksichtigung nahezu aller Gesichtspunkte geschieht, macht den Rang seiner Analysen aus und den Wert seiner Abwägungen. Denn selbstredend darf nicht nur, es muss angemessen abgewogen werden. Denn das, worin wiederum Walter Jens sehr zutreffend Charakteristika einer "Kriegsrhetorik" findet, darf ebenso weder als Folter noch als Antifolterrhetorik durchgehen: "das Ausschließen aller Fragen, aller Bedenken, aller Gegenargumente".

Aber zunächst noch einmal und mit allem Nachdruck: Die Rechtsstellung des Beschuldigten im Strafverfahren darf um keinen Millimeter geschmälert, insbesondere seine Freiheit, zu schweigen, auszusagen, dabei selbstredend auch zu lügen, in keiner Weise tangiert werden. Auch nicht dergestalt, dass man heute diese strafprozessualen Grundrechte gegen was auch immer abwägt. Anders gesagt: Das Folterverbot erweist sich insoweit als "abwägungsfest" (Hassemer).

Allein zutreffend müsste es allerdings heißen, das Verbot, einen Beschuldigten zu foltern, sei gerade das Ergebnis einer Abwägung. Der rechtsstaatlich gebotenen Abwägung aller vernünftigerweise zu berücksichtigenden Interessen. Dazu zählen vor allem die Funktionstüchtigkeit unserer Strafrechtspflege, der Persönlichkeitsschutz des Beschuldigten sowie der Schutz des Opfers. Was dieses angeht, so denke man beispielsweise an die eventuell erforderliche wiederholte zeugenschaftliche Einvernahme eines sexuell missbrauchten Kindes mit der damit verbundenen schweren seelischen Belastung.

Das Folterverbot schützt nicht nur den Beschuldigten

Doch auch der "humanitäre" Menschenschutz im Strafverfahren dient, was gern und häufig übersehen wird, letztlich diesem, seiner Rechtsstaatlichkeit. Mit anderen Worten: Das Folterverbot im Strafverfahren schützt nur prima vista allein den Beschuldigten. Bei der genannten Aufzählung der schätzenswerten Güter steht der Schutz der Rechtspflege deshalb betont an erster Stelle. Und nicht allein das. Er obsiegt bei der Abwägung: Aus diesem Grunde kann die Entscheidung, darf sie letztlich nicht anders lauten.

Auch wenn viele sie nicht billigen. Darunter viele Bürger unseres Landes. Doch gerade im Rahmen der Folterdebatte ist auf die kaum zufällig beschworene vox populi kein Verlass.

Sympathien und Antipathien helfen nicht weiter. Ekel und Entrüstung auch nicht. Zur Diskussion steht vielmehr - das ist am Ende wirklich viel mehr, es ist alles -, daß wir nicht nur - es wäre schon schlimm genug - auf die schiefe Ebene gerieten, wie Hassemer befürchtet, ließen wir, in welch seltenen Ausnahmefällen auch immer, die Folterung eines Beschuldigten zu. Wir hätten damit den Rechtsstaat bereits aufgegeben. Zu dem gehört vieles. Eines zuerst und zuletzt. Es ist sein Lebensnerv: das rechtsstaatliche Verfahren.

Und das aus jedenfalls zwei Gründen. Den einen nannte ich schon. Recht entsteht nur da, wo Recht gesprochen wird. Das nennt man Rechtsprechung. Im Parlament dagegen wird Politik gemacht. Kein Recht gesprochen. Ich weiß, diese Ansicht ist (noch) nicht mehrheitsfähig.

Unbestritten aber müßte sein, was Luhmann einst "Legitimation durch Verfahren" nannte. Sie allein ist uns geblieben in nachmetaphysischer Zeit. Alle anderen Rechtsgarantien, wo immer eine alteuropäische Ontologie und Theologie sie angesiedelt haben mochten, sind uns weggebrochen. Gerade weil wir keine Letztbegründung mehr kennen für allein richtige Entscheidungen insonderheit der Gerichte, sind wir auf das Gerichtsverfahren angewiesen. Unabweisbar. Mit im Strafverfahren! zugleich den Freiheitsgarantien für den Beschuldigten. Wer sie auch nur antastet, ruiniert das rechtsstaatliche Verfahren. Und somit den Rechtsstaat überhaupt.

Die im strengen Wortsinn letztlich fallentscheidenden Probleme beginnen genau da: im "laufenden Strafverfahren". Diesmal gegen den Polizeivizepräsidenten und möglicherweise weitere Polizeibeamte. Zu diesem "konkreten Fall" hat sich Hassemer klugerweise nicht geäußert. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil er damit rechnen muss, als Bundesverfassungsrichter eines gar nicht so fernen Tages selbst mit der Sache befasst zu werden. Denn die Zeiten, da spätestens der Bundesgerichtshof in Straf und Zivilsachen als letzte Instanz entschied, sind längst vorbei.

Doch unabhängig vom konkreten Fall sieht Hassemer Probleme gerade bei der Abwägung. Er meinte gegenüber seinem Interviewpartner gar, "eine Tendenz zu beobachten, die strikte Befolgung, des Rechts eher einer Abwägungskultur zu opfern". Doch Abwägung ist abwägungsresistent.

Wer deshalb auch keine Veranlassung sieht, ausgerechnet die Grundoperation jeder Rechtsarbeit, das Abwägen von Pro und Contra, auch nur zur Disposition zu stellen, und am Ende - wie Brugger bei der Gefahrenabwehr - den Einsatz der Folter dort als "zweitschlechteste Lösung" bejaht, der ist noch immer nicht am Ende der Diskussion angelangt. Ihm steht das Schlimmste erst bevor.

Dabei geht es zunächst um eine bislang nicht explizit gestellte Frage. Sie betrifft nicht länger die Anordnung der Folter, sondern deren Durchführung. Wer soll es tun? Und - man stockt, es auszusprechen - wie?

Selbst vor diesem wohl heikelsten Komplex schreckt Brugger nicht zurück, wird aber erkennbar vorsichtiger. Er formuliert die Paradoxie, ob "wir dann nicht im Polizeirecht etwas Urregelbares regeln" müssten. Nämlich: "Foltermethoden". Bruggers verhaltene Antwort: "Eigentlich ja..." Die von ihm sogleich, gleichsam in allerletzter Minute, eingebaute Notbremse funktioniert auch normalerweise. Nur hier nicht. Es handelt sich um das allgemeine Rechtsprinzip der - von Brugger für Polizeibeamte noch eigens "angehobenen" - Verhältnismäßigkeit. Andere sprechen auch von Übermaßverbot. Das tut in der Tat regelmäßig gute Dienste. Hier aber muss es versagen. Denn wer das Übermaß vermeiden will, muss zuvor das Maß kennen.

Schon die Frage danach erscheint zynisch. Wer gleichwohl nach Belegen sucht, findet sie. Ich nenne nur einen. Olaf Miehe, Strafrechtler, auch er in Heidelberg, wird in der "Rhein Neckar Zeitung" vom 22. Februar dieses Jahres wie folgt zitiert: "Um es mal ganz drastisch zu sagen: Zwei zerquetschte Daumen sind leichter zu verkraften als der Verlust eines Menschenlebens." Wäre dann etwa das Absägen der Finger, das "Der englische Patient" erleiden musste, das verbotene Übermaß?

Wo hört der Druck auf, und wo fängt die Folter an?

Nur vermeintlich besser verläuft die Diskussion auf semiabstrakter Ebene. Auch hierzu lediglich einen Nachweis. Den hat Otto Schily beigebracht. Er hat der "Zeit" ein Interview gegeben. Eine der Kernaussagen wird in der Überschrift zutreffend zusammengefasst mit: "Druck ja, Folter nein." Doch was heißt hier Druck? Vor allem: Wo hört der Druck auf und fängt die Folter an?

Wiederum stehen wir vor Abwägungen. Was eigentlich Juristen nicht schrecken sollte. Denn das Abwägen gehört, wie gesagt, zu ihrem Handwerk. Macht es recht eigentlich erst aus. Und dies nicht etwa lediglich dort, wo Prinzipien im Widerstreit stehen. Schon jede vermeintlich schlichte Gesetzesinterpretation ist nichts anderes als ein Abwägen zwischen regelmäßig mindestens zwei unterschiedlichen Auslegungsangeboten.

Aber klar sollte auch sein, daß es hier - wie nahezu überall - Grauzonen gibt. Regionen der Unsicherheit. Rechtsarbeit ist allemal auch Arbeit am Unbestimmten, mit dem Ziel, es kleinzuarbeiten. Der verbleibende Rest ist weniger ein Rechtsrisiko als vielmehr die Bedingung dafür, daß es so etwas wie Recht überhaupt "gibt". Das allein im Medium der Sprache überhaupt zu denken und deshalb auch nicht anders zu haben ist. Doch die Sprachgebundenheit und damit Vagheit des Rechts ist kein Alibi, die Denkarbeit vorzeitig einzustellen. Schily mahnt noch: "Selbstverständlich muß man darauf achten, daß die Grenzen nicht zu eng gezogen werden." Doch dann hört das Denken auf. Obwohl der Kopf noch eigens beschworen wird. Wir müssen lesen: "Wenn man den Art. 1 des Grundgesetzes im Kopf hat, weiß man, wo Schluß ist." Sancta simplicitas.

Nein, Artikel 1 im Grundgesetz und im Kopf gebietet, gar nicht erst anzufangen. Nicht, weil eine Abwägung rechtlich untersagt wäre, sondern eine Grenzziehung zwischen Noch nicht Poltern und Bereits Foltern realiter nicht erfolgen kann.

Hätten wir uns dann aber die Abwägungsdiskussion nicht sparen können? Ich glaube, nicht. Denn wer die Diskussion vorher abbricht, bleibt zu leicht im Abstrakten. Ein schlichtes Ja oder Nein zur Folter überzeugt weniger als der Blick auf die konkreten Dilemmata, denen auch der nicht entkommt, der in Extremfällen das Foltern ausnahmsweise bejaht. Als Ergebnis seiner Abwägung.

Was jetzt noch ansteht, mache ich ganz kurz, zumal gerade darüber in den letzten Wochen viel geschrieben worden ist. Ich meine die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Polizeivizepräsidenten Daschner, um jetzt bei diesem zu bleiben.

Als erstes: Er hat, was in der von ihm ausgelösten Folterdebatte häufig gar nicht mehr wahrgenommen wird, weder selbst gefoltert noch andere foltern lassen. Er hat die Folter "nur" angedroht. Erfolgreich. Das war keine Aussageerpressung, wohl aber eine Nötigung. Dem Erpresser wurde kein Haar gekrümmt; nicht der geringste Schmerz zugefügt. Dennoch aber sein Wille gebrochen, das Versteck nicht zu nennen. In dem sein Opfer - immer aus der Sicht der insoweit nicht wissenden Polizeibeamten - einem qualvollen Tode entgegenvegetierte.

Auf Justitias Waage liegt jetzt einerseits die Würde des Erpressers, auch wenn von der zu sprechen, wie Kissel angemerkt hat, "emotional wahrlich nicht leichtfällt". Das Gegengewicht, die Gegengewichte: das Leben seines Opfers. Und dessen Würde. Wie seltsam, daß, nicht wenige Gutmenschen die gar nicht mehr sehen. Ich habe mit der gebotenen Abwägung keine Schwierigkeit. Dann entfällt eine Strafbarkeit wegen Nötigung.

Ohne daß es auf Notwehr in Gestalt der Nothilfe oder Notstand ankäme. Auch hier müssen wir aber wieder differenzieren. Diesmal zwischen dem Strafverfahren gegen den Beschuldigten Daschner und dem Disziplinarverfahren gegen den Polizeibeamten Daschner.

Und in letzterem hilft ihm nichts. Auch keine Notwehr in Form der Nothilfe, auch kein Notstand. Zwei Rechtfertigungsgründe, die schon ausgiebig diskutiert worden sind. Und das auch im Hinblick darauf, daß diese nur für "normale" Menschen gelten. Nicht für einen Polizeibeamten im Dienst. Dem hilft hier auch kein möglicher Verbotsirrtum. Denn der war für ihn vermeidbar. Und kann deshalb nicht entschuldigt werden. Psychische und intellektuelle Vorbereitung auf Extremsituationen - wenn das denn für ihn überhaupt eine war - gehört unabdingbar zur Ausbildung eines Polizeibeamten. Erst recht zum Standard eines Polizeivizepräsidenten.

Ganz zum Schluss komme ich noch einmal zurück auf Luhmanns "Atombombenfall". Gerade in diesen Tagen kann auch kein Alteuropäer ihn als unrealistisch verdrängen. Der Fall läßt mich nicht los. Luhmann hält ihn, wie alle Folterfälle, für letztlich unentscheidbar. Und sieht den, der dennoch vor Ort entscheiden muss, vor eine "tragic choice" gestellt.

Ich kann ihm darin heute nicht widersprechen. Doch ich möchte es morgen tun können. Wir alle müssten es. Denn eine existentielle Frage des Rechts darf nicht eine tragische sein, Antigones Welt nicht unsere Welt richterlicher Entscheidungen. Und damit des Rechts.

Der Verfasser lehrt Strafrecht und Rechtsphilosophie in Marburg.