Es lebe der Mord. Es lebe der Himmel. Es lebe der Mensch

Karl Günther Hufnagels Roman "Crapziks Karneval"

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es wird geredet, als sei nichts absonderlich. Crapzik, Journalist und Dichter, hat eine Frau mit zwei Kindern und zwei Geliebte. Eine der beiden Geliebten, Magda, lebt mit zwei Männern und einem entführten Kind nach eigenen Gesetzen. Als sie ihren Großvater nicht mehr brauchen, bringen sie ihn um - mit dem fast beiläufigen Kommentar: "Er hat das Gesetz selbst erfunden. Wir haben ihn dem unterworfen."

Crapzik schreibt an einem Buch und will sich in das Hirn eines Mörders hineindenken, um die zu schreibende Bluttat möglichst authentisch darstellen zu können. Je mehr Zeit er mit Recherchen verbringt, desto mehr Alkohol trinkt er und desto absurder erscheint ihm das ,normale' Leben. Auf dem Weg zur Arbeit schwindelt ihm, er muss innehalten, das Hemd schweißgetränkt. Sein Versuch, die Welt wiederherzustellen, indem er Bäume und Fahrräder zählt, misslingt. Sein Leben entgleitet ihm, in seiner Stammkneipe steigt er auf einen Barhocker und balanciert auf einem Bein, um die Wirklichkeit zu testen. Was ist real? Der Alkohol übermannt ihn, er fragt sein Gegenüber, ob er wohl nur eine ausgedachte Gestalt aus seinem zu schreibenden Buch sei: "Wüsstest du zu klären, ob du dich erfunden hast oder ob du tatsächlich das bist, was du bist? Ich jedenfalls halte dich für ausgedacht. Von mir."

Allmählich entgleitet Crapzik sein Verstand, und er zieht den Leser mit in die Untiefen eines schizophrenen Gehirns.

Karl Günther Hufnagel, Autor zahlreicher Romane, Hörspiele, Theaterstücke und Filmtexte, bewegt sich in "Crapziks Karneval" - gemeinsam mit dem Leser - am Rande des menschlichen Verstandes.

Der Roman ist der erste Teil der Trilogie mit dem vielsagenden Titel "Wahn" (Teil 2: "Geburt eines Dichters im Bürgerkrieg"; Teil 3: "Der Wiedergänger"). Es ist merkwürdig, wie die Einbildungskraft, die wir sonst zu meistern wähnen, sich selbstherrlich aufreckt, dem gebietenden Verstand fast feindselig gegenübersteht und uns Widerstrebende gewalttätig auf Pfade führt, die zu betreten uns anders mit gutem Grund schaudern würde.

Da ist die Rede von sexuellen Ausschweifungen, die mit Liebe nichts gemein haben. Seine Ehe ist Crapzik ein blutiges Elend, das er nicht Leben nennen mag. Und dann Magda, die zwei Männer und das entführte Kind: Crapzik besucht sie, die in einer gesetzlosen Welt leben, in der nichts normal ist. Eine Frau uriniert auf einen Leichnam. Das entführte Kind schläft mit Magda und wird hinterher von den Voyeuren noch aufgefordert, sie zu treten und zu misshandeln. Um diese Familie dampft es von Schwüle und von Verwirrung. Wer spricht? Die Sprecher sind fast nie gekennzeichnet, die Gedanken Crapziks oder seiner Geliebten scheinen wie hektisch niedergeschrieben, Nebensätze, Satzfragmente aneinander gereiht. So hetzt uns Hufnagel durch sein Buch.

Während der Lektüre weicht niemals die Aufmerksamkeit, der Leser ist gefesselt von diesen für Crapzik normalen Absonderlichkeiten, während er sich in einer höllischen Schaukel fühlt, nun aufwärts gewippt, nun mit unheimlicher Wucht und Schnelligkeit niedergerissen zur Erde, an der Crapzik wiederum nur im rasenden Schwung vorübersaust. Schon halluziniert Crapzik Haare, die wie Flaum von der Decke fallen. Es sind Haare von toten Kindern. Dann läuft er über die Straße, den Menschen fallen Augäpfel aus den Händen. Er versucht sie einzusammeln, ein sinnloses Unterfangen, und niemand beachtet ihn. Wieder stellt sich der Leser die Frage, was hier eigentlich passiert - oder was mit ihm beim Lesen passiert.

Am Ende der Lektüre befindet sich der Leser in einem anderen Zustand als vorher. Es scheint verrückt, sich an eine Theke zu setzen und sich auf den ersten Schluck aus einem kühlen, güldenen und perlenden Bierglas zu freuen. Lässt man sich auf Crapziks Karneval ein, stellt man sich mit ganzer Aufmerksamkeit diesem Spiel mit dem eigenen Verstand, dieser Herausforderung Hufnagels, dann ist man am Ende ein Stück der Welt entrückt. In diesem Buch wird Wahn zur Wahrheit, Vernunft verrät sich als Irrsinn - ein intellektuelles Spiel.

Titelbild

Karl Günther Hufnagel: Crapziks Karneval.
Gemini Verlag Diana Kempff, Berlin 2002.
172 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3935978103
ISBN-13: 9783935978101

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