Kindergute Natur und zynischer Mensch

Zur Kleist-Biographie von Rudolf Loch

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unendlichkeit kann man mathematisch sowohl nach außen als auch nach innen erzeugen. Man kann sich sehr große Zahlen denken und man kann sich sehr kleine Zahlen denken. Die vorliegende Kleist-Biographie des Gründers und langjährigen Direktors der Kleist Gedenk- und Forschungsstätte in Frankfurt/Oder erreicht ihre Größe nach innen, nicht nach außen. Sie versucht dezidiert nicht, die vorhandenen Kleist-Bilder durch ein weiteres zu ergänzen oder gar zu übertrumpfen, kein neuer Kleist im Unendlichen, sondern präsentiert, im Gegenteil, dem Leser einen bekannten Kleist. Sie hat nicht mit Sensationen und Skandalen und atemberaubenden Spekulationen, Diagnosen und Enthüllungen aufzuwarten. Man kennt diesen Kleist, aber man kennt ihn nicht besonders gut. Und hier nun spielt die vorliegende Biographie ihre Stärke aus. Durch eine Fülle von Details wird dieses bekannte Leben lebendig, so, als ob man einen bekannten, vorgegebenen Rahmen zwischen den Lebensdaten 1777 und 1811 besonders detailliert und farbenfroh, so facettenreich wie nirgends sonst ausgemalt bekommt. Das Unbekannte, mit dem Loch uns vertraut macht, das sind die vielen kleinen Episoden, aber auch die großen und größeren biographischen Spannungsbögen, die dieses kurze, sonderbare Leben ausmachen.

Kleist selbst hätte Gefallen an mathematischen Metaphern wie der Unendlichkeit nach außen und innen gefunden. Gleichzeitig drücken sie in nuce jene Problematik aus, die sein gesamtes Leben durchzieht. Denn einerseits ist die Mathematik die 'rationalste' Wissenschaft, andererseits ist sie schon so rational, dass sie die Rationalität von jeder Praxis entfernt und zu einer formalen Linie zusammenschnurren lässt. Und jenseits dieser Linie kann man dann die Mathematik nutzen, um Paradoxien zu erzeugen, und die Unendlichkeit ins Spiel zu bringen. Unendlichkeit heißt aber nichts anderes, als dass man den Bereich der Vernunft durchmessen und nicht gefunden hat, wonach man suchte, das Glück und den Sinn des Lebens. Genauso wenig wie die Seele, wie es in der "Penthesilea" heißt, genauso wenig lässt sich nämlich Glück berechnen. Hier versagt die Mathematik und mit ihr das Recheninstrument der Vernunft, weil sie selbst jene Paradoxien erzeugt, aus denen das Subjekt nicht mehr herauskommt. An der Mathematik wird für Kleist anschaulich, wie die reine Vernunft in den Extrembereichen ihrer Anwendung Paradoxien erzeugt, in dem sie Satz und Gegensatz gleichermaßen heraufbeschwört.

Und so verläuft auch eine Leitlinie dieses Lebens, die man bei Loch sehr schön in vielen Einzelstationen nachverfolgen kann. Zunächst steht da jener junge aufklärerische und insofern auch humanistische Offizier, der trotz des stupiden und zum Teil Menschen verachtenden Militärreglements sein Glück finden will. Das Glück fliegt ihm dabei nicht zu, aber, so ist der junge Kleist überzeugt, es lässt sich berechnen. Wer nur intensiv nachdenkt, der wird schon den rechten Weg finden. Doch bevor sich das Glück, von Vernunft be- und ausgerechnet, positiv bestimmen lässt, muss eine negative Tat erfolgen. Kleist weiß zwar noch nicht, worin dieses Glück besteht, aber er weiß, worin es nicht besteht: im Militärdienst. Es ist fast eine Überlebensnotwendigkeit, diesen Dienst - und damit eine sichere, vorgezeichnete Karriere - zu quittieren . Kleist ist bereit, gegen Widerstände von allen Seiten, diesen Schritt zu wagen. Es wäre ihm vermutlich nicht möglich gewesen, wenn er nicht von der Möglichkeit, mit der Vernunft das Glück zu finden, überzeugt gewesen wäre. Im Nachhinein scheint es fast so, als ob Kleist hier biographisch das Experiment auf einen in der Not gesetzten Anfang machen wollte.

Doch die Lebenspläne lassen sich nicht so verwirklichen, wie sich Kleist das gedacht hatte. Die Suche nach dem Glück verliert mehr und mehr, wenn auch in Etappen und diskontinuierlich, ihren teleologischen Charakter und gewinnt stattdessen eine ziellose Unendlichkeit. Symptomatisch dafür ist das Scheitern seiner Beziehung zu Wilhelmine von Zenge. All die vernünftigen Aufgaben, die Kleist ihr in seinen 'Brautbriefen' stellt, führen nicht zu der gewünschten Sozialisation. Vielmehr wird der Braut immer deutlicher bewusst, dass sie sich nicht mit Kleist auf dieses Experiment, das zwangsweise die bürgerlichen Konventionen verlassen muss, einlassen will.

Die Biographie von Loch zeigt dann, wie sich Kleist immer stärker auf die Schriftstellerei verlegt. Der Schriftstellerberuf soll ihm seine Position im Leben sichern. Zunächst sind die entsprechenden Pläne noch sehr zaghaft und keineswegs ausschließlich. Aber immer stärker sieht Kleist im Dichten seine Berufung. Doch je intensiver er sich auf das Schreiben verlegt, desto problematischer wird es für ihn, zudem massiv verstärkt durch die nicht zuletzt sozioökonomischen und historischen Bedingungsfaktoren, darauf seine Existenz zu gründen. Der Plan, den sicheren Weg des Glücks zu finden, sollte über die Literatur führen, doch schon von Anfang an, schon seit den ersten Versuchen um den gigantischen Dramenentwurf des "Robert Guiskard" und dem Schauspiel vom "Zerbrochnen Krug" wird die Literatur eher zu einem Reflexionsorgan für Kleist, um die Problematik - und zum Teil auch die Aussichtslosigkeit dieses Experiments - zu hinterfragen und fiktional zu gestalten. So kann die Biographie an sehr vielen Stellen verdeutlichen, wie in der Literatur Problemkonstellationen entfaltet werden, die für Kleists eigenen Lebensweg oft in dramatischer Weise ausschlaggebend wurden, z. B. wo es - eine immer wiederkehrende Situation - um fehlendes Vertrauen ging.

Das ist das Kernstück der Biographie: das Verhältnis von Leben und Werk. Rudolf Loch verabsolutiert weder das eine noch das andere. So wird z. B. eines der rätselhaftesten biographischen Momente, die Würzburger Reise, nur sehr knapp abgehandelt. Loch beteiligt sich nicht an den wilden, sensationsheischenden Spekulationen über die Ziele dieser Reise, die Kleist selbst mit rätselhaften Äußerungen umschreibt. Loch nennt kurz verschiedene Möglichkeiten und geht dann weiter - wie Kleist das übrigens nicht anders getan hat. Auf der anderen Seite gibt es eine Passage, in der Loch das Zusammentreffen Kleists mit dem Ehepaar Krug beschreibt, eine Situation, die nicht ganz der Pikanterie entbehrt, ist doch Frau Krug Kleist frühere Verlobte Wilhelmine. Loch beobachtet die Beteiligten dabei, wie sie sich selbst beobachten, und macht so nicht nur die verschiedenen Lebensmodelle deutlich, sondern auch die Punkte, wo diese Modelle an unüberwindliche, wechselseitige Verständnisbarrieren stoßen und wo sie Eingang ins Werk, z. B. in die Experimentalanordnungen, denen die Frauen in Kleists Werk, bisweilen auf Leben und Tod, unterworfen werden, gefunden haben. Es ist nun gerade kein Zufall, dass genau in diesem Zusammenhang in der Biographie selbst das Stichwort von "Leben und Werk" fällt, eingebettet in einen geradezu programmatischen Satz, der als Motto und Leitspruch dem ganzen Buch dienen könnte: "Oft stehen Leben und Werk in einem ganz unmittelbaren Verhältnis zueinander, ein heute kaum noch beachteter Tatbestand."

Loch hat Recht, doch mittlerweile scheint sich dieser Sachverhalt zu ändern und der Zusammenhang von Leben und Werk immer mehr Beachtung zu finden. Kurz vor Kleist wurde Kafka mit einer großen Biographie (von Reiner Stach) bedacht; andere biographische Projekte ließen sich anführen. Ein Mentalitätswandel scheint stattzufinden. Und worin dieser Wandel besteht, kann man im Umgang mit der anderen Seite, mit dem Werk, erkennen. So macht Loch keineswegs die methodischen Moden mit, die aus Kleists Werk eine Illustration von Psychoanalyse, Dekonstruktion, Gender Studies und Postmoderne überhaupt gemacht haben. Zwar geht der Autor ausführlich auf nahezu alle Texte und Textsorten Kleists ein, liefert sehr anschauliche und feinfühlige Vergegenwärtigungen von Kleists Werk, aber er will nirgendwo eine und schon gar nicht eine neue oder gar die Interpretation geben. Das ist auch gar nicht möglich, da die Textbetrachtung an die Lebensbeschreibung zurückgebunden bleibt. Hier scheint eine der Hauptverwerfungslinien zu verlaufen, die das Projekt einer Kleist-Biographie kennzeichnen und charakterisieren. Wo Leben und Werk aufeinander bezogen bleiben, ist es nicht mehr möglich, das Werk einem unendlichen Deutungsspiel zu unterwerfen. Die Biographie ist ein Hemmschuh gegen die unendliche Semiose (Umberto Eco) und die unlimitierte Interpretation der Texte eines Autors.

Aber das darf keineswegs als biographische Lesart missverstanden werden, so als ob es darum ginge, die Biographie als Schlüssel zum Werk zu nutzen. Darüber ist man glücklicherweise schon längst hinaus. Es geht vielmehr darum, das Leben als einen nicht unwichtigen, vielleicht sogar als wichtigsten Bedingungsfaktor des Werkes zu begreifen und die wechselseitigen Interpretationsverhältnisse durchschaubar zu machen. So liefert das Leben, wenn es so detailreich erschlossen wird wie in der vorliegenden Biographie, einen wichtigen, ja unumgänglichen Wissensspeicher, ohne den man das Werk schlechterdings nicht vollständig verstehen kann, ganz einfach, weil die Möglichkeit fehlt, die Semantik des Textes in ihrer Tiefendimension durch den kulturellen Kontext, wie er mit dem Leben gegeben ist, auszuloten. So helfen die Texte, gerade die Konflikt- und Entscheidungskonstellationen in Kleists Leben zu vergegenwärtigen wie umgekehrt das Leben als eine mögliche Projektionsfolie hilft, die springenden Punkte in den Texten deutlicher hervortreten zu lassen.

Es sei ein Beispiel genannt, das Loch so gar nicht ausführt: Er berichtet von zwei gegensätzlichen Einschätzungen Kleists durch Clemens Brentano und Achim von Arnim. Während Brentano Kleist als " 'kindergut[e]' Natur" sieht, "also offenherzig und gut", meint Arnim, "Kleist sei 'der unbefangenste, fast zynische Mensch, der (ihm) lange begegnet' wäre". Wird man aber nicht an die Kleistschen Figurencharakteristiken eines Michael Kohlhaas oder eine Congo Hoango erinnert, die gleichermaßen widersprüchlich charakterisiert werden: rechtschaffen einerseits und entsetzlich andererseits und beides zugleich? Fast scheint es, als ob sich diese Widersprüche, wie sie sich aus dem gescheiterten aufklärerischen Lebensplan ableiten lassen, sowohl ins Leben als auch ins Werk tief eingegraben hätten, so dass sich Lebens- und Werkstrukturen aufeinander abbilden lassen.

Die Biographie macht aber auch - und nur deswegen kann sie sich legitim auf diesen Topos von Leben und Werk berufen - auf die Distanz zwischen beiden Bereichen aufmerksam. Kleist ist eben nicht Kohlhaas, Congo Hoango oder gar der Prinz von Homburg. Zwar kämpft auch Kleist um Anerkennung und um seinen Platz in der Gesellschaft, aber sein Kampf ist vielfach ganz alltäglicher Natur. Loch führt einen durchaus praktischen und tapferen Kleist vor, der viele Niederlagen einstecken kann und muss, so z. B. seine drei gescheiterten publizistisch-journalistischen Projekte des "Phöbus", der "Germania", der "Berliner Abendblätter". Zuletzt geht es ihm ums reine Überleben und im Sommer 1811 verschlechtert sich seine Situation derart, dass er nicht mehr über sich hinaussehen kann. Zuletzt hatte er noch - auch vergeblich - versucht, jenen Schritt rückgängig zu machen, der sein Lebensexperiment eingeleitet hat, und wieder ins Militär einzutreten. Das Experiment, das mit dem schwerwiegenden Austritt aus dem Militär begann, war für Kleist endgültig gescheitert, auch wenn der Wiedereintritt unter anderen Vorzeichen - nämlich dem erwarteten Befreiungskampf gegen die französische Besatzung - erfolgen sollte. Doch Preußen war noch nicht so weit, seine Führung war noch nicht reif für einen Befreiungskrieg, und für Kleist war es dann zu spät. Und abermals zeichnet es die Biographie aus, wie unprätentiös sie Kleists Ende schildert und nirgendwo, selbst an dieser Stelle nicht, der Versuchung anheimfällt, den Mythos vom traumatisierten, suizidalen Dichter fortzuspinnen.

Neben den umfassend dargestellten und erklärten politischen Kontexten vermisst man in diesem Zusammenhang ein wenig die Darstellung von Kleists philosophischer Lektüre. Denn dass solche Widerspruchsstrukturen nicht vom Himmel gefallen oder ihm einfach eingefallen sind, versteht sich von selbst. Sie stammen nicht zuletzt aus den transzendentalphilosophischen Grundsatzreflexionen eines Kant oder Fichte, die Kleist kannte und in denen diese versucht haben, die Vernunft bzw. das Selbstbewusstsein theoretisch durch sich selbst zu begründen. So ist eine Idee wie die aus dem Stück "Amphitryon", dass die Identität des Subjekts nur im Extremfall durch dessen Selbstverleugnung zu haben sei, eine Fichtesche Bewusstseinsmetapher par excellence. Fast scheint es, als sei Kleists Leben der Versuch, das praktisch nachzuholen, was den Theoretikern noch nicht einmal theoretisch gelungen ist: eben diese vernünftige Selbstbegründung der eigenen Existenz.

Aber ansonsten bleiben kaum Ansprüche unerfüllt. Das Buch besitzt einen fast 100-seitigen Anmerkungsteil, in dem die gesamte Kleistforschung, eben nicht nur auf dem biographischen Sektor, zum Teil eine sehr eingehende Beachtung findet. Hinzu kommen u. a. Lebenstafel, Werkregister und Personenregister, die den Band zusammen mit dem detaillierten Inhaltsverzeichnis exakt erschließen. Zudem ist der Band reich bebildert, zwar nicht so, dass wir uns Kleist oder seine Welt und seine Orte vorstellen können, denn diese Authentizität ist nicht mehr einzuholen, aber, gerade in den zeitgenössischen Bildern, doch so, wie Kleist und seine Zeitgenossen das abgebildet gefunden haben, was wir heute nicht mehr sehen können.

Der Band selbst geht auf eine frühere Kleist-Biographie des Verfassers zurück, die 1978 in der DDR erschien. Doch der Verfasser hat diese Biographie nicht aktualisiert, er hat eine völlig neue Biographie geschrieben, die nur hie und da auf das Text- oder Bildmaterial des älteren Werkes zurückgreift. Verschwunden sind auch die in der DDR wohl notwendigen Anbindungen an das Regime, um Kleist zu legitimieren. Wo die frühere Biographie noch mit einem Ausblick von Kleist aus auf die sozialistische Literatur endete, steht nunmehr Kleist als Signatur der Moderne.

Vielleicht gelingt es dem Band, das Verhältnis von Leben und Werk wieder auf die Tagesordnung der Kleist-Forschung zu setzen. In jedem Fall aber ist es unumgänglich für den, der sich mit Leben und Werk Kleists auseinandersetzen will. Wer den Band gelesen hat, der sieht keinen anderen Kleist, aber Kleist mit eigenen anderen Augen.

Titelbild

Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
540 Seiten, 37,00 EUR.
ISBN-10: 3892444331

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