Sexualität und Verbrechen
Thomas Brasch schreibt über Ich-Entgrenzung und Einsamkeit
Von Ulla Walther
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNach fast zehnjähriger Pause hat Thomas Brasch ein neues Buch vorgelegt. Der einstige Dissident, der wie viele andere in der Folge der Biermann-Ausweisung im Dezember 1976 die DDR verlassen durfte, ist durch seine Erzählungsbände "Vor den Vätern sterben die Söhne" (1977) und "Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen" (1977) bekannt geworden. Wie in den früheren Werken geht es auch in seinem neuen Text um die Aufhebung eigentlich unüberwindbarer existentieller Grenzen. Der Titel "Mädchenmörder Brunke" läßt an eine Geschichte denken von sexuellem Mißbrauch, von Sex & Crime; solche Erwartungen laufen allerdings ins Leere, und das, obwohl Sexualität und Verbrechen den Kontext bilden. Brasch inszeniert vielmehr in einem eher schwachen Plot ein Spiel unterschiedlicher Erzählebenen, um damit existenzielle Grenzüberschreitungen wie die Grenze zwischen Individuen darzustellen. Die Handlung ist bewußt konstruiert, die Ebenen wechseln unmerklich aber stetig, wie auch die Figuren ihrer Haut entschlüpfen und ihr eigenes Ich zum Ich des anderen werden lassen, Raum- und Zeitgrenzen dabei ungehemmt überspringend.
Der Selbstversuch des Architekten D. H., in sieben Tagen und Nächten das Leben des vergessenen Karl Brunke nachzuerleben und niederzuschreiben, endet tödlich. In einem Waldstück im Osten Berlins wird sein nackter Leichnam gefunden, eingespannt in eine Art Tötungsapparat, durch den er sich selbst stranguliert hat. Zwischen seinen Beinen findet die mit der Untersuchung des mysteriösen Todesfalles befaßte "Maßnahmebehörde" ein Bündel handbeschriebener Seiten, das sein "aufgerichtetes Glied [...], das sich durch die Totenstarre ins Ewige versteinert hat", bedeckt. Das Konvulut dokumentiert die Geschichte von D.H.`s Obsessionen.
In einer zweiten Ebene berichten Aufzeichnungen des tot aufgefundenen Architekten von seiner Faszination am Kriminalfall Brunke und seinem Verdacht, der Fall sei ein Justizskandal. Denn, so D.H., der sogenannte Mädchenmörder Brunke habe zwar im Jahr 1905 zwei Apothekerstöchter erschossen und sich wenige Tage nach seiner Einlieferung ins Zuchthaus erhängt; das eigentliche Interesse der Justiz sei es aber gewesen, eine ungeheuerliche Erfindung Brunkes zu verheimlichen: Brunke habe nämlich versucht, angetrieben vom Erlebnis seiner verschmähten ersten Liebe, eine universale Liebesmaschine zu konstruieren, "die den Menschen ersparen soll den Schmerz der Liebe und der Trennung und ihn ganz erfahren lassen seine wirklichen Bedürfnisse, seine Gier und seine Schwächen, ohne sich ihrer zu schämen". Broschs Protagonist vermutet, daß der Staat seinerzeit nicht an Menschen interessiert war, deren "von Angst befreite Energie sich ganz gegen ihn, den Moloch, wenden würde". Er versucht nun in sechsjähriger mühevoller Arbeit anhand aller noch verbliebenen Spuren das Leben Brunkes zu rekonstruieren, um letztlich die "Liebesmaschine" nachzubauen. Es ist offensichtlich, daß er dadurch nicht nur der Menschheit einen großen Dienst erweisen, sondern seine eigene Einsamkeit und Bindungslosigkeit überwinden will.
Eine dritte Ebene der Erzählung besteht aus der Nacherzählung des Werdegangs des sogenannten Mädchenmörders Karl Brunke. Brunkes Leben wird sowohl aus der Perspektive des Architekten, als auch aus derjenigen der "Maßnahmebehörde" sowie schließlich aus der von Brunkes Sohn dargestellt. Alle drei Erzählebenen gehen, ständig changierend, unmerklich ineinander über, die Erzähltechnik wird metaphorisch als "Fuge" definiert. Brunke deutet den Begriff dreifach: einmal als weibliche Scheide, dann als den nicht zusammenwachsenden Riß seines offenen Schädeldachs und schließlich als musikalischen Begriff. Die Maschine, die er zu bauen beabsichtigte, sollte diese offenen Fugen schließen helfen und den "erlittenen Verlust ersetzen". Allerdings muß die zukünftige Liebesmaschine mit Informationen "vom Lieben und vom Lassen" gefüttert werden. Zu diesem Zweck gründet Brunke die sogenannte "Heilige Familie", die ihre durch käufliche Dienste erworbenen, teils extremen erotischen Erfahrungen an Brunke weitergibt.
Am Ende seiner Nachforschungen muß D.H., auf den Brunkes "Exekutions- und Erektionsstuhl" gespannt und die Ergebnisse niederschreibend, erkennen, daß es die Liebesmaschine nicht funktionieren kann, daß auch Brunke selbst die Sinnlosigkeit seines Vorhabens bereits erkannt hat: "Es gibt keine Liebesmaschine, außer man selbst ist eine und sucht sich eine andere, eine aus Fleisch, Lust und Hoffnung, wie man selbst eine ist." Gerade dies war jedoch weder Brunke noch Brunkes Nachfolger in ihrer Einsamkeit möglich.
Und was kann der Leser in diesem anstrengenden Erzählkonstrukt erkennen? Ehrlich gesagt, nicht sehr viel. Das Thema Braschs, die Ich-Entgrenzung, die versuchte Grenzüberschreitung vor allem im sexuellen Raum hängt ebenso im leeren Raum, wie die beiden Protagonisten Brunke und D.H.. Was als großangelegte Formel vom Lieben und vom Lassen der Menschheit eingeleitet wird, das verläuft sich letztendlich nur in einem unwirklichen Eindruck von schwerfällig konstruierten Zusammenhängen und teils völlig Unzusammenhängendem.
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