Entfremdung vom Expressionismus
Kurt Heynicke entpuppt sich als gefühlvoller Heimatdichter
Von Heribert Hoven
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Expressionismus war eine literarische Revolution, die einen völligen Stilwandel in der künstlerischen Sprache herbeiführte. Im Unterschied zu vorangegangenen Aufbrüchen, etwa dem "Sturm und Drang" oder dem Naturalismus, waren die Expressionisten jedoch zugleich auch Teilnehmer von epochalen zeithistorischen Umbrüchen. Kurt Heynicke, dem der Südwestrundfunk ein Funkporträt zum 110. Geburtstag widmete, auf dem die vorliegende CD basiert, war einer der 23 Dichter, die Kurt Pinthus 1920 in seiner Anthologie "Menschheitsdämmerung, Symphonie jüngster Dichtung" versammelte. Er gehörte, wie Pinthus 1959 in einem Brief an Heynicke schrieb, "zu den meistzitierten und auch heute noch als typisch für die damalige Zeit herausgehobenen Dichtern"; ein Revolutionär allerdings war er nicht. Weder stimmte er, wie etwa Johannes R. Becher eine "Hymne auf Rosa Luxemburg" an, noch rief er, wie Ernst Stadler, zum "Sturmangriff" auf. Der schonungslose Zynismus eines Gottfried Benn war ihm ebenso fremd wie die Weltuntergangsstimmung eines Georg Trakl oder Jakob van Hoddis. Heynicke, der seinen ersten Gedichtband ("Rings fallen Sterne") 1917 in Herwarth Waldens Sturm-Verlag veröffentliche, vereinte mit den übrigen Expressionisten die Liebe zur farbigen Metapher, ein lyrischer Ton des Singens und die berühmte Anrufung des Menschen, die als völlig überhöhte Forderung sehr bald ihre Desillusionierung erfahren musste. Das harmlos Beschauliche und die naturlyrische Unverbindlichkeit seiner Gedichte führte denn auch dazu, dass Heynicke während der Nazizeit weiterarbeiten konnte und dort leichte, heitere und erfolgreiche Romane veröffentlichte. In der Nachkriegszeit verfasste er seichte Filmdrehbücher ("Wie einst im Mai") und komödiantische Hörspiele ("Das Lächeln der Apostel"). Er starb 1985 in der Nähe Freiburgs und hatte damit alle übrigen Dichter der "Menschheitsdämmerung" weit überlebt. "Er sieht sich wohlversargt, ja, versargt und nicht versorgt in einem Museum, das Expressionismus heißt und das von eilfertigen Nachfahren zu früh errichtet wurde", schrieb Heynicke 1969 spöttisch klagend in der Vorrede zu seinem Gedichtband "Alle Finsternisse sind schlafendes Licht". Er wusste, dass er der Rubrizierung als "Expressionist" nicht mehr entgehen konnte, obwohl dieser Zeitraum auch in seinem lyrischen Schaffen nur einen kleineren Raum einnahm.
Auch auf der vorliegenden CD sind die Jugendgedichte Heynickes kaum vertreten. Das lässt sich aber nur schwer ermitteln, weil auf dem Begleitzettel ein Verzeichnis der vorgetragenen Gedichte ebenso wie ein Quellenverzeichnis der übrigen Texte fehlt, die überwiegend Selbstaussagen aus diversen "Vorworten" des Autors zu seinen Gedichtbänden stammen. Dazu kommt eine Erzählung, mit der sich der aus Schlesien stammende Autor, im "Freiburger Lesebuch" vorstellte. Sie trägt den Titel "Frühlingszauber" und handelt von den märchenhaften Wandlungen einer Glockendolde, einem Frühblüher, der nur im Schwarzwald vorkommen soll. Die in der Erzählung nur dezent angedeutete Kritik an den modernen Zeiten war bereits in ihrem Entstehungsjahr 1982 veraltet und deplaciert. Leider wird keiner der Texte von Kurt Heynicke selbst gesprochen, was der CD immerhin einen archivarischen Wert verliehen hätte. Der stimmungsvolle Vortrag der beiden Schauspieler Doris Wolters und Hubertus Gertzen sowie die bluesigen Klavierintermezzi des Komponisten Andreas Eichinger kommen indes dem religiösen, gänzlich unpolitischen Grundton von Heynickes Lyrik entgegen.
"Der Freiburger Dichter Reinhold Schneider hat mir einmal attestiert, dass meine Gedichte aus einem Leben kämen, das noch in Ordnung ist oder sich diese Ordnung wiedergewonnen hat." Dieses, von Heynicke selbst vermerkte "ehrende Urteil" sagt wohl alles. Es scheint, als habe der SWR Baden-Baden in seiner Sendung einen Heimatdichter ehren wollen.