Momente des Abschieds

Elisabeth Borchers' Gedichtband "Eine Geschichte auf Erden"

Von Franziska PaarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franziska Paar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Immer noch züngeln die Flammen

glühen die Schmerzen

immer noch zittern die Sterne

vor Weh und vor Zorn

Immer wieder stehn wir da

sehn wir hinauf

in das nicht zu Ermessende."

Was bedeutet es, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen? Mit welchen Gefühlen, Ängsten und Sehnsüchten erleben die Angehörigen die Momente des letzten Augenblicks? Inwieweit vermag es der Tod, auf das Leben der Hinterbliebenen nachhaltig einzuwirken? Die meisten Menschen erfüllt der Gedanke an den Verlust einer geliebten Person mit Angst und Unverständnis. Obwohl wir von Kindheit an wissen, dass alles Leben vergänglich ist und auch wir eines Tages nicht mehr auf der Welt sein werden, sind wir uns selten dieser Tatsache bewusst. So fürchten wir uns vor dem Tod und können ihn tief in unserem Innern nicht begreifen.

Das unsichtbare Band zwischen Leben und Tod hat seit jeher Dichter veranlasst, das Phänomen des Todes zu beschreiben und mit Hilfe ihrer Gedichte den Betroffenen Trost und Hoffnung zu spenden. Wie kann die Einsamkeit und Trauer durch die Hinterbliebenen bewältigt werden, in welcher Form ist ein Weiterleben und ein Neuanfang ohne den Verstorbenen für sie möglich?

Elisabeth Borchers wendet sich in ihrem letzten Gedichtband "Eine Geschichte auf Erden" dem eigenen Altern sowie dem bevorstehenden und später eingetretenen Tod einer geliebten Person zu. Mit großen Emotionen und einer zugleich unmittelbaren Nähe versucht die Autorin immer wieder neu, die einzelnen Phasen des Abschiednehmens von einem nahestehenden Menschen zu beschreiben. Hierbei lässt sie das lyrische Ich den Weg von der Gegenwart in die Vergangenheit bis in die Kindheit zurückgehen. Durch die Auseinandersetzung mit dem Erlebten erlangt das Ich eine neue Klarheit über seine Gefühle, die es ihm ermöglicht, erneut in das Hier und Jetzt und das kommende Morgen zurückzufinden.

Durch die einfachen, kargen und psalmenartigen Wörter und Bilder sprechen aus jedem der Gedichte die Gefühle des Schmerzes, der Wut und der verloren geglaubten Hoffnung, die durch die zunehmende Schmucklosigkeit von Sprache und Stil noch an Tiefe gewinnen. Die vom Verlust und Tod eines geliebten Menschen geprägten Gedichte greifen darüber hinaus das Alleinsein sowie den Wunsch auf, das Vorgefallene ungeschehen zu machen. Das Ich verspürt das Verlangen "die Weltenuhr [zu] verrücken", um auf diese Weise die vergangenen Ereignisse, insbesondere den Tod der geliebten Person, auszulöschen.

In allgegenwärtigen Naturbildern erkennt es seinen eigenen Schmerz und die empfundene Orientierungslosigkeit: "sieh wie die Sonne herfällt über die Häuser am Hang [...] so wie meine Wünsche über dein Nichtvorhandensein". Es gelingt ihm durch die Begegnung mit der Natur und durch die Erlebnisse, die es auf Reisen in ferne Länder sammelt, schreibend zu sich selbst zu finden.

Die Gedichte von Elisabeth Borchers führen dem Leser vor Augen, welche Angst die Hinterbliebenen vor einer ungewissen Zukunft plagt und welcher Hilflosigkeit sie sich ausgesetzt fühlen, da sie keine Vorstellung von einem Ort nach dem Tode haben. Jedes ihrer Gedichte trägt einen Teil zu dieser Antwort bei, und das trauernde Ich findet diese Ruhestätte als "sternenübersäten Ort der letzten Atempause". Gleichzeitig spiegelt die Erfahrung, einen vertrauten Menschen zu verlieren, auch die eigene Angst vor dem Tode wider. Borchers' Gedichte sind ein Appell an den Leser, auf seine persönliche Stärke zu vertrauen, den Lebenssinn wiederzufinden, und sie entzünden zugleich einen Funken für ein unverhofftes Wiedersehen nach dem Tode.

Es gelingt der Autorin mit ihren Naturbildern und ihrer mythischen Metaphorik, die unterschiedlichen Empfindungen und Stimmungen anzusprechen und den Leser bei seinem Abschied von den Verstorbenen zu begleiten. Sie zeigt dem Leser, wie die gemeinsame Vergangenheit bewahrt werden und aus den schmerzlichen Erinnerungen ein Neubeginn entstehen kann. Auf der Suche nach alltäglichen, oftmals kleinen Dingen des Verstorbenen "sammle ich [s]eine Fremdwörter. [S]ein Bangkok und Casablanca".

Die Autorin hat ihre frühere Leichtigkeit und Unbeschwertheit verloren, und die Texte in ihrem neuen Gedichtband lassen ihre Kritik an den Grenzen der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit durchschimmern. Sie zeugen jedoch um so mehr von Lebenserfahrung, großer gedanklicher Tiefe und Eindringlichkeit des Geschilderten. Dies macht Elisabeth Borchers' neuen Gedichtband, der den Leser mit seinen eigenen Ängsten und Fragen konfrontiert, zu einem außergewöhnlichen Ereignis.

Titelbild

Elisabeth Borchers: Eine Geschichte auf Erden. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
70 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3518413031

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