Das Nashorn vertreibt die schwarzen Vögel der Depression

Friedrich Dürrenmatts phantasievolle Zeichnungen und Bildgeschichten

Von Heike HendersonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Henderson

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist allgemein bekannt, dass der vielfach prämierte Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt in Werken wie "Die Physiker" und "Der Besuch der alten Dame" seine eigene Welt kreierte. Weniger bekannt sind seine phantasievollen und oft albernen Sketche und Zeichnungen, die nun in "Das Nashorn schreibt der Tigerin" von Dürrenmatts zweiter Frau, der Filmemacherin Charlotte Kerr, herausgebracht wurden. Die verspielten Zeichnungen und Bildgeschichten handeln von Dürrenmatts eigener und imaginärer Familie: er selbst ist das Rhinozeros, Charlotte Kerr die Tigerin, Vinzenz, Vinzenza und Pallepittli sind die (imaginären) Kinder. Kerrs einfühlsame Kommentare erläutern und ergänzen Dürrenmatts gewitzte Zeichenkunst. Sie geben Einblick in Dürrenmatts Leben und Schaffensweise, in seine Poesie des Alltags und in die Kraft der Imagination.

Die Zeichnungen selbst sind vermutlich keine künstlerischen Meisterwerke, doch beeindrucken sie durch ihre Kreativität und Originalität. Wie in seinen literarischen Werken wirkt Dürrenmatts Zauber ansteckend und inspirierend. Für Kerr hat er den schwierigen Ehealltag mit Phantasie zum Spiel gemacht; für seine Leser eröffnet er eine neue Dimension seines Schaffens. Mit leiser Ironie, durchaus auch Selbstironie, entlarven die Zeichnungen und kurzen Begleittexte die Absurditäten des Alltags. Dürrenmatt kommentiert nicht nur die Freuden der Liebe und Tücken des Ehealltags, sondern auch politische Ereignisse wie den Fall der Berliner Mauer und literarische Werke wie Schillers "Lied von der Glocke". Auf Dauer etwas nervend ist lediglich die um den Hochzeitstag einsetzende Lautverschiebung von R zu L. So wird zum Beispiel das Rhinozeros zum Linozelos, das am Brandenburger Tor "Fleude schönel Göttelfunken" singt.

Bei aller kindlichen Verspieltheit geben die Zeichnungen, Cartoons und Bildergeschichten Einblick in Dürrenmatts Leben und Schaffen. Dominiert werden sämtliche Zeichnungen durch das Nashorn, das nicht nur im Mittelpunkt des Geschehens steht, sondern auch immer größer als die Tigerin und alle anderen Partizipanten ist. Selbst das Brandenburger Tor schrumpft im Verhältnis zum Schweizer Nationaldenkmal Dürrenmatt alias Rhinozeros. Das lässt natürlich Rückschlüsse auf das Selbstbild des Autors zu, und wäre da nicht die gleichzeitige Behäbigkeit und Komik des Nashorns, würde einem grauen vor so viel Egomanie. Bezeichnend für Dürrenmatts Umgang mit Kritikern ist auch dessen humorvolle Reaktion auf den Verriss seines letzten Werks "Durcheinandertal" im literarischen Quartett. In einer Bildgeschichte kocht er Kritikersuppe: "Statt Speck Leichlanicki Obelmüllel Kalasek." Die Größenverhältnisse sind auch hier eindeutig zu Gunsten des Nashorns verschoben.

"Das Nashorn schreibt der Tigerin" beinhaltet viel Persönliches, zeigt die menschliche Seite des manchmal obsessiven Schriftstellers und wird doch nie peinlich intim. Wie schon in Kerrs 1992 erschienenem Buch "Die Frau im roten Mantel", das einige der Nashorn-Zeichnungen und Kommentare bereits enthält, erfahren die Leser nicht nur Neues über Dürrenmatt selbst, sondern auch über die Freuden und Schwierigkeiten des Lebens an der Seite (und im Schatten) des bekannten Mannes. Das Werk attestiert den beiden tiefe Liebe,die sich sowohl in Dürrenmatts rührenden Versuchen, die immer wiederkehrenden Depressionen seiner Frau zu lindern (seine Zeichnungen sollen die "schwarzen Vögel der Depression" vertreiben), wie auch in Kerrs liebevollen Kommentaren offenbart. Waren die Filzstiftzeichnungen Dürrenmatts private Liebeserklärungen an seine zweite Frau, so ist dieses Buch Kerrs öffentliche Liebeserklärung an Dürrenmatt.

Titelbild

Friedrich Dürrenmatt: Das Nashorn schreibt der Tigerin.
Aufbau Verlag, Berlin 2002.
206 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3351029616

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch