Eine Möglichkeit der Identität

Über Mariella Mehrs neuen Roman "Angeklagt"

Von Nina WarneckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Warnecke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich bin im Zustand der Gnade. Ich töte. Ich bin. Auf diese kurze Formel gebracht, betrachte ich mein Leben als gelungen." So direkt und unverblümt beginnt Mariella Malik ihren Roman "Angeklagt", der den dritten Teil einer Trilogie darstellt. Der dritte Teil nach "Daskind" im Jahre 1995 und "Brandzauber" 1998. Auch hier wird ein Frauenschicksal beschrieben. Die Motive bleiben die gleichen, auch sprachlich bleibt sich die Autorin treu, jedoch wagt sich Mariella Mehr in ihrem neuen Roman einen Schritt weiter. Weiter hinein ins Unergründliche, ins Grundlose. "Angeklagt" erzählt die Geschichte der in Untersuchungshaft sitzenden Brandstifterin und Mörderin Kari Selb aus deren eigener Perspektive.

Niemand, nicht einmal der Untersuchungsrichter weiß, wie Kari einzuschätzen ist. Deshalb soll nun eine Gerichtspsychologin in einem Gespräch feststellen, ob sich gegebenenfalls bei der 25-jährigen Unzurechnungsfähigkeit diagnostizieren lässt.

Doch was sie dort in dem schlicht eingerichteten Zimmer zu hören bekommt, zwischen vier weißen Wänden und zwei Stühlen, verschlägt selbst dem Leser den Atem. Es ist eine erschütternde Lebensbeichte von der Kindheit im Dorf, das sich eigentlich gar nicht mehr Dorf nennen kann, mit all "diesen Welten, diesen hermetisch verschlossenen Weltraumkapseln", in denen alles geheim gehalten wird. Wie zum Beispiel, dass der Vater es in der zum Gästezimmer umfunktionierten Mansarde mit der Mutter, der Tante und immer häufiger mit der Tochter treibt. Immer war viel Alkohol im Spiel. Die zu Beginn erst fünfjährige Tochter musste dies wilde Treiben mit ansehen. "Aber ich war nicht blind. Nicht taub. Brunstschreie, Keuchen, Stöhnen, Quietschen. Viel zu viel Tageszeit, viel zu viel ... Nacht. Ja. Auch viel zu viel Nacht. Rote Nächte. Viel zu viele." Und wurde schließlich in die wüsten Feste mit einbezogen. "Ist das erst ein Spaß so was Enges Widerspenstiges aber was solls sind alle zu stopfen." Schließlich verlässt der Vater die Familie und zieht zur Schwester der Mutter. Er sagt, er ginge auf Geschäftsreise. Die Mutter überlässt sich dem Alkohol. Kümmert sich nicht um die eigene Tochter, die sie schon vorher im Stich gelassen und kaum vor dem Vater beschützt hatte. Und so stumpft Kari ab; das als "mittelmäßig intelligent, mittelmäßig hübsch und wahrscheinlich auch mittelmäßig liebenswert" geltende Mädchen versucht, mit all diesen Belastungen und Verletzungen fertig zu werden und eine Ausdrucksform für ihr Inneres zu finden. Sie schafft es nicht alleine.

So taucht kurz nach ihrem zwölften Geburtstag Malik auf. "Von einer Stunde auf die andere. Sie lachte über meine Verblüffung, hakte sich bei mir ein und blieb." Malik wird eine Stütze. Sie verschwindet und taucht wieder auf. An ihrem dreizehnten Geburtstag steckt Selb in Maliks Begleitung eine Telefonzelle an, es folgt das Haus in der Löwengasse, der Bauernhof von Franz Huber ist schließlich schon der fünfte Brand in fünf Wochen. Immer samstags. Dann brennt im Hafen auch noch das Schiff des Mädchenhändlers Kohli.

So taucht Seraphim auf. "Er trat an mich und Malik heran, verband und war doch unnütz, aber ich geb ihn nicht her, ich brauchte ihn nicht und hing doch an ihm, als wäre er ein Teil von mir." Von nun an sind Kari, Malik und Seraphim oft zusammen unterwegs. "Als wäre ich zweigeteilt - bin ich denn krank-, sondern zwei Personen und er, Seraphim, so etwas wie unser gemeinsames Bindeglied, also ein Drittes, Verbindendes." Zusammen planen sie Brände, tragen abwechselnd die roten Schuhe, die der Vater Kari einst zu Weihnachten schenkte, und zwar obschon der "Hohn" ihres leuchtenden Rots in ihr von Anfang an eine "unbändige Wut" auslöst. Die Frauen, die sie später ermordet, tragen alle "zur falschen Zeit am falschen Ort die falschen Schuhe", nämlich rote. "Oh, da wollte auch der Untersuchungsrichter einhaken. Von Zwang redete er, vom unbezähmbaren Wunsch zu töten. Er redete um mein Leben, um meine Freiheit, mein tapferer Ritter, wollte mich erretten. Vor wem oder vor was er mich denn zu retten gedenke, habe ich ihn gefragt. Vor ihnen, Kari Selb, stotterte er so leise, dass ich ihn bat, die Antwort zu wiederholen."

Doch Kari ist nicht mehr zu helfen. Sie kennt ihr Leben nicht anders. "Es war zu ertragen, weil man nicht wusste, wie es hätte anders sein können." Sie sucht unbewusst nach einem Weg, ihre Aggressionen abzubauen und ihre Gefühlswelt zurecht zu rücken. Mit Hilfe von Malik und Seraphim und ihrer Gewalt.

Kari Selb redet und redet. Die Gerichtspsychologin kommt nicht zu Wort, wird nur durch Kommentare und Drohungen von Karis Seite für den Leser wahrgenommen. Der Monolog der buchstäblich in sich selbst Gefangenen steigert sich zunehmend. Als sie von ihrem letzten Mord erzählt, fehlen bald jegliche Satzzeichen. Die Sprache wird schneller, energischer, Kari redet öfter von sich in der dritten Person. Malik besucht Kari schon länger nicht mehr. Ist verschwunden.

Und warum die Psychologin plötzlich rote Schuhe trägt, bleibt ein Rätsel. "Rot, will dir das Tanzen beibringen. Frau Doktor, nun ist es aus mit uns beiden vielleicht wäre ankündigen schonender gewesen wie geht man denn um mit unsereins so nicht und schon gar nicht wenn Augen überdeutlich überhaupt Rot was ist dir bloß eingefallen mit dem Feuer zu spielen mit dem spielt keiner schon gar nicht du".

Wie kann eine Frau, die vor lauter Selbstschutz völlig gefühllos wird, einen Weg finden, sich mitzuteilen? Erst durch ihre Stützen Malik und Seraphim ist sie zu einer Ausdrucksform fähig. Auch wenn es Gewalt ist. Die beiden, die sich immer mehr als abgespaltene Teile ihres Ichs, als innerpsychische Stimmen entpuppten, die an einer Stelle "synchron" flüstern: "Vergiss es, nichts gibt dich dir zurück." Ich sind drei. So hat Kari zwar an Stärke und vor allem Identität zurückgewonnen aus ihrer Mittelmäßigkeit, aber um den Preis, dass sie sich selbst unwiederbringlich verloren hat.

Fast unbeschreiblich ist dieser Einblick in die Gewalt. Jedoch nur fast, denn Mariella Mehr gelingt er. Mit ruhiger und bedachter Sprache formuliert sie das Innere einer Mörderin. Es wird nichts verharmlost oder positiv dargestellt. Der Roman steckt voller Gewalt, voller Aggression und dem Erschrecken davor. Aber nur so erhält man als Leser die Möglichkeit auch zu verstehen. Durch den direkten und eiskalten Einblick in die Gefühlswelt einer zerstörten Existenz und ihren Kampf um Identität.

Titelbild

Mariella Mehr: Angeklagt. Roman.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2002.
140 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 331200294X

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