Weibliche Utopie oder matrilinearer Mythos

Roxana Hidalgo-Xirinachs über Medeas Aggression und Autonomie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie habe einen Mann zwar momentan betören, nicht aber festhalten können, denn ihre Kraft und ihre Gewalt seien "erdrückend und damit erkältend und abstoßend" gewesen. Zudem habe sie einer "schreckliche[n] Denkweise" angehangen und überhaupt sei sie eine "Verworfene" gewesen. Vernichtende Urteile, die hier von Autorinnen des 18. und 19. Jahrhunderts über eine ihrer Geschlechtsgenossinnen verhängt werden. Sie gelten der mythischen Figur Medea, der Kindsmörderin par excellence. Da scheint die in den Worten Malvida von Meysenbugs, Fanny Lewalds und Therese Hubers zum Ausdruck kommende Abneigung nicht überraschend.

Wie kommt es dann aber, dass ein Altphilologe in der Mitte des 20. Jahrhunderts Medeas Ehrenrettung unternahm? Denn 1952 sprach Ernst Buschor der titelstiftenden Figur der griechischen Tragödie "Medea", mit der Euripides die "erste in voller Größe erlebte eigenwillige Frauengestalt" auf die Bühne gestellt habe, eine "reine, starke Seele" zu und kontrastiert sie der "unreinen, feigen" ihres Gatten Jason. Vielleicht könnte Roxana Hidalgo-Xirinachs Untersuchung der weiblichen Aggression und Autonomie am Beispiel von Euripides' "Medea" hier einiges Licht ins Dunkel bringen. Doch nimmt die Autorin Buschors Medea-Interpretation nicht zur Kenntnis, sondern moniert ganz allgemein, dass "altgeschichtliche Abhandlungen" des Dramas meist von einer "Dämonisierung der Weiblichkeit" geprägt seien, oder aber die Figur der Medea in eine "idealisierte Opferrolle" drängten, da eine weibliche Bühnenfigur, die "mehr Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstbestimmung besaß als damals der Frau von Rechts wegen zustand", die "Altertumsforscher" offenbar verwirre.

Hidalgo-Xirinachs sucht nicht nur die beiden Klippen der Spaltung Medeas in Dämonin und Opfer zu umschiffen, sondern überhaupt einen dritten Weg zwischen oder jenseits der "dichotomischen Aufteilung der Welt" zu finden, zu der etwa "jene legendäre Konfrontation von Mythos und Aufklärung" gehöre. Überraschenderweise sieht sie jedoch gerade den Dualismus des Geschlechtsunterschiedes zu unrecht verleugnet und plädiert für die "Anerkennung der Geschlechterdifferenz", die eine "neue Begegnung von Mann und Frau" ermögliche.

Um die Bedeutung der "tragisch-weiblichen" Figur Medea für das Verständnis heutiger "Weiblichkeit" fruchtbar zu machen, untersucht die Autorin das Zusammenspiel von Liebe und Aggression der Euripideischen Protagonistin mit dem in ihrer Figur verkörperten Fremden und schließt die Frage an, wie diese beiden "konfliktbeladenen Ebenen" mit Medeas Verlangen nach Autonomie, Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung "zusammenfließen".

Bevor wir uns jedoch Hidalgo-Xirinachs' Argumentationsgang zuwenden, sind einige Bemerkungen zur Übersetzung des Buches und zu dessen Zitierweise unvermeidlich. Zwar listet die Autorin im Literaturverzeichnis mehrere deutsche und spanische Übersetzungen von Euripides' "Medea" auf, doch wird im Text nie ersichtlich, welche der Übertragungen aus dem Altgriechisch sie gerade zitiert. Dies kann jedoch von grundlegender Bedeutung für die Interpretation sein. So zitiert Hidalgo-Xirinachs aus einem Monolog Medeas etwa "Tötest du sie [die Kinder] auch, sie waren Dir doch teuer", während es in der (neben anderen in der Literaturliste ebenfalls aufgeführten) Übersetzung Buschors heißt: "Sie sind ja dein Glück, auch wenn du sie tötest" (Hervorhebungen R. L.). Nur die erste der beiden Übertragungen lässt Hidalgo-Xirinachs' Interpretation zu, der zufolge sich Medea hier von ihren Kindern "distanzier[t]" und "für einen Augenblick die mütterliche Beziehung zu ihnen [...] verleugne[t]", da dies die "einzige Möglichkeit" sein, ihre Söhne zu töten. Das altgriechische Original, das hier Klarheit schaffen könnte, wird von der Autorin weder hier noch an anderer Stelle herangezogen.

Was nun die, wie die Autorin meint, "ausgezeichnete" Übersetzung betrifft, so ist dieser vermutlich nicht nur so manches Wortungetüm anzulasten wie die "Vermögenskreativität des Dichters" oder die "gesellschaftliche Unbewusstmachung" sowie der Umstand, dass wiederholt von "Gegenteil" die Rede ist, wenn sinnvoller Weise nur ein "Gegensatz" gemeint sein kann, sondern auch der oft etwas umständliche und daher nicht immer ganz leicht zugängliche Stil, zu dessen Illustration eine etwas längere Passage zitiert sein soll, in der die Autorin darlegt, "daß es eine Trennung zwischen der Realität und der mythischen Welt als solche in Wirklichkeit nicht gibt, sondern daß die Diskurse und die soziale Praxis in ihrer Wechselbeziehung eine unauflösliche Einheit bilden. Die Wirklichkeit entspricht bereits an sich einer symbolischen Auslegung der Realität, und seinerseits drückt die Welt der in den verschiedenen mythologischen, politischen und philosophischen Diskursen vorhandenen sozialen Vorstellungen grundlegende Aspekte der Wirklichkeit aus." Das erinnert zwar von Ferne an Ernst Cassirers "Philosophie der symbolischen Formen", verliert sich aber anders als das Hauptwerk des früheren Neukantianers letztlich doch in Dunkelheit, die auch dadurch nicht erhellt werden kann, dass die Autorin erläutert, die mythologischen Texte seien "im Gegenteil zu anderen literarischen Werken eine ästhetische Schöpfung des Autors als ein Wechselspiel zwischen den eigenen verborgenen Begierden, seinen Lebenserlebnissen und den mythologischen und religiösen Kosmogonien der Kollektivität".

Um die umstürzende Bedeutung der Figur Medea in Euripides Stück deutlich werden zu lassen, wendet sich die Autorin zunächst dem Geschlechterverhältnis in der griechischen Mythologie, Philosophie und Gesellschaft zu. Hidalgo-Xirinachs' Darlegungen fallen allerdings nicht durchweg überzeugend aus. So ist ihr Hinweis auf die Eumeniden und Moiren ein nur dürftiger Beleg für die "dominante religiöse Bedeutung" von Frauen in der "heiligen Götterwelt", die damals noch als ein "weiblicher Bereich" gegolten habe. Auch ist Hidalgo-Xirinachs Darstellung der Situation der Frauen in der Athener Polis nicht ganz frei von Widersprüchen. So konstatiert sie zunächst, dass die Frauen dort "besondere[n] politische[n] Begrenzungen" unterworfen gewesen seien, spricht aber zwei Seiten weiter von der bloß "vermeintlichen Wirklichkeit vom sozialen Ausschluß der Frauen im klassischen Athen". Dennoch betont sie - zumindest was die Tragödien des Euripides betrifft - zu Recht, dass durch die in den Frauenfiguren verkörperte "Rollenvielfalt" eine "neue Dimension des Weiblichen" entstanden ist; insbesondere natürlich in dem "ungewöhnlich provozierende[n] Weiblichkeitsentwurf" der Figur Medea, deren Widersprüchlichkeit zwischen ihrer "mütterlichen Liebe" und ihrem Leiden auf der einen Seite und dem "unaufhaltsamen Wunsch" nach Rache für die erlittene Ehrverletzung oszilliere. Es ist diese "innere Ambivalenz", an der sich Hidalgo-Xirinachs weitere Untersuchung entfaltet.

Ähnlich wie Medea zwischen leidender Mutterliebe und Rachedurst zerrissen ist, erblickt die Autorin in ihr einmal einen zukunftsweisenden Weiblichkeitsentwurf, dann aber wieder eine rückwärtsgewandte Figur, die am Übergang vom verlorengegangenen Matriarchat zur patriarchalischen Gesellschaft anzusiedeln ist. So unterstreicht Hidalgo-Xirinachs zwar einerseits, dass Medea geradezu die "Personifizierung von utopischen Weiblichkeitsentwürfen" sei, da sie eine "um die Verwirklichung des eigenen Lebensentwurfes kämpfende Frau" mit "Selbstbestimmungs- und Durchsetzungsfähigkeit" verkörpere. Rückwärtsgewandt scheint der Autorin die Figur allerdings, insofern sie Medea als "Grenzgängerin" und "Übergangsfigur" zwischen einer längst vergangenen, vielleicht bloß mythischen Gesellschaft, "in der die Frauen noch ein hohes Ansehen und soziales Prestige genossen", und der zur Zeit des Euripides herrschenden "patrilinearen Geschlechterordnung" ansiedelt, in der Frauen rechtlich und politisch eine "beschränkte soziale Position" innehatten.

Gleichgültig, welche der beiden Interpretationen nun auch zutreffen mag - wenn sie einander denn überhaupt ausschließen -, fraglos verkörpert die Figur der Medea nicht nur eine "neue Dimension des Weiblichen", sondern sprengt die "im westlichen Denken vorherrschenden binären "Gegensätze" zwischen Natur und Kultur sowie zwischen Körper und Geist, vor allem aber denjenigen zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit. Denn "nicht nur die das Chaos und die Unordnung verkörpernde chtonische Weiblichkeit, sondern auch die in der Männlichkeit repräsentierte Distanzierungs- Differenzierungs- und Bezeichnungsfähigkeit finden in der Figur Medea Raum". Eine kaum zu überschätzende Erkenntnis der Autorin, die allerdings in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Hidalgo-Xirinachs Anliegen zu stehen scheint, den Geschlechtsunterschied wieder in sein Recht zu setzen.

Nicht ganz zutreffend ist hingegen der Befund, dass Medea "in den Augen der anderen" eine "aggressive, mörderische, furchtsame und verachtete Frau" sei. Zumindest verachtet wird sie nicht; abgesehen vielleicht von Jason, der allerdings seinerseits selbst eine verächtliche Figur ist. Jasons Diener hingegen erweist ihr eine fast freundschaftlich zu nennende Treue und - wichtiger noch - der die Frauen der Stadt verkörpernde Chor bringt ihr über das gesamte Stück hinweg warme Zuneigung und emphatisches Mitgefühl entgegen.

Ein letztes Wort noch zur sozial-psychoanalytischen Interpretation des Stücks, mit der Hidalgo-Xirinachs ihr Buch beschließt. Unabhängig von den Einwänden, die man gegen den Ansatz psychoanalytischer Textinterpretation erheben könnte, stellen sich auch hier Zweifel an einzelnen Ergebnissen der Analyse ein. Nur einige seien genannt: Dass Medea ihre "autonomiefordernde Aggression und Handlungsfähigkeit" erst auf der Schiffsreise mit Jason entwickelt habe, bedenkt nicht, dass sie bereits vorher ihre Überlegenheit gegenüber Jason bewies, und dass es gerade Medeas Autonomie und Handlungsfähigkeit waren, die ihm allererst ermöglichten, das goldene Vlies an sich zu bringen. Auch lässt sich die von Medea aktiv und initiativ betriebene Trennung von ihrer Familie wohl kaum als bloßer "adoleszenter Initiationsritus" abtun. Ebensowenig überzeugt Medeas "Neid auf die Kinder" als ein Motiv für den "ungeheuerlichen Plan", sie zu töten. Medeas Neid, so Hidalgo-Xirinachs, werde dadurch hervorgerufen, dass die Kinder "Haus und Stadt" behalten könnten, während die Mutter in die Verbannung müsse. Zudem fühle Medea sich von ihren Kindern verlassen. Diese Interpretation ist schon alleine deshalb nicht stichhaltig, weil die ursprünglich über alle drei ausgesprochene Verbannung erst aufgrund von Medeas Intervention für die Kinder wieder aufgehoben wurde. Entgegen der Auffassung der Autorin war es Medea anschließend auch nicht "unmöglich", weiterhin mit ihren beiden Söhnen zusammen zu sein. Vielmehr hätte sie ihre Kinder ohne weiteres im Sonnenwagen mitnehmen können, was von ihr auch kurz erwogen aber verworfen wurde.

Titelbild

Roxana Hidalgo: Die Medea des Euripides. Zur Psychoanalyse weiblicher Aggression und Autonomie.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2002.
341 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-10: 3898061019

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