Multimediales Alexandria
Die Produktionsfirma Alexander Kluge erhält den diesjährigen Büchner-Preis
Von Alexander Müller
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Heiner Müller hat mich 1987 sehr entzündet, wieder zu schreiben, indem er mich darauf hinwies, wie verwandt Autoren untereinander sind. Wir mögen qualitativ verschieden sein - ich bin ein Zwerg, und da ist ein Großer, ein literarischer Riese -, aber vertrauenswürdig sind wir beide, weil wir uns glücklicherweise Mühe geben. Es gibt ein Projekt, an das ich innerlich glaube: es gab einmal die wunderbare Bibliothek in Alexandria, die enthielt alle Bücher der Antike. Ein fanatischer Christenbischof im 4. Jahrhundert ließ sie abbrennen, weil man eigentlich bloß die Heilige Schrift braucht und auch die nichtmal. Und hier glaube ich, dass alle Autoren zusammen, so wie sie arbeiten, diese Bibliothek von Alexandria, auch die verlorenen Bücher darin, im Herzen tragen. Das ist mir eine Utopie: dass wir - durch praktisches Tun und dadurch, dass wir sie innerlich lebenslänglich weiter tragen - diese Bibliothek wiederherstellen."
Der Georg-Büchner-Preis geht in diesem Jahr an den Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge. Der bedeutendste deutsche Literaturpreis ist mit 40.000 Euro dotiert und wird auf der Herbsttagung der Akademie am 25. Oktober in Darmstadt überreicht. Die Bekanntgabe des Preisträgers wurde einerseits mit Überraschung, andererseits sehr zufrieden und erleichtert aufgenommen. Offensichtlich handelt es sich um eine glückliche Wahl.
Die Verwunderung ist einfach zu erklären: Alexander Kluge, der letztes Jahr seinen 70. Geburtstag feierte, ist immer noch ein Hans Dampf in allen Gassen, ein Tausendsassa, der es sich nicht nehmen lässt, in gleich mehreren Disziplinen zu glänzen. In Halberstadt als Sohn eines Arztes geboren, besuchte er das dortige Domgymnasium und später, nach der Trennung der Eltern, ein Gymnasium in Berlin-Charlottenburg. Nach dem Abitur in Berlin studierte er Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik in Marburg und Frankfurt am Main, u. a. bei Theodor W. Adorno, dessen "Dialektik der Aufklärung", gemeinsam mit Max Horkheimer verfasst, für Kluge eine Art Grundbuch darstellt. 1956 promovierte er zum Dr. jur. und wurde nach dem Assessorexamen in Berlin und München als Rechtsanwalt tätig. Diese Berufung scheint allein nicht befriedigend gewesen zu sein, denn parallel wandte sich Kluge dem Film zu und wurde Autor. Der Einstieg in die Filmbranche gelang 1958 als Assistent von Fritz Lang, und vermutlich dürfte aus dieser Zeit sein Hang zur unabhängigen Produktion herrühren. Denn Kluge durfte der "Zerstörung eines Filmkonzepts" beiwohnen, wie er es selbst in einem Bericht schilderte. Er hospitierte bei den Dreharbeiten von "Das indische Grabmal", das zu einem künstlerischen Fiasko für den berühmten Regisseur werden sollte, da seine Mitarbeiter vom Produzenten gegängelt und Langs kostspielige, "fast wagnersche" Vorstellungen, so Kluge, ignoriert wurden.
Kluge selbst drehte seit 1960 als Regisseur und Produzent Kurzfilme. 1962 war er Mitinitiator des als Abkehr von 'Opas Kino' formulierten "Oberhausener Manifestes". Er übernahm im selben Jahr zusammen mit Edgar Reitz und Detten Schleiermacher die Leitung des "Instituts für Filmgestaltung" an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. 1963 schließlich gründete er in Anlehnung an den Gott des günstigen Augenblicks seine eigene Produktionsfirma: "Kairos-Film". Bereits mit seinem ersten ausgezeichneten Spielfilm "Abschied von gestern" (1966) gelang ihm ein ansehnlicher, auch internationaler, Erfolg, und der Titel des Films wurde zum vielzitierten Motto des sogenannten Neuen Deutschen Films. Etliche bekannte Werke folgten, wie der nach einem eigenen Buch erstellte Spielfilm "Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos" von 1968, Ausflüge ins erzählerische und ins Science-Fiction-Kino, aber vor allem assoziative, zwischen Dokumentation und Fiktion changierende Essayfilme wie "Gelegenheitsarbeit einer Sklavin" (1973), "Die Patriotin" (1979) oder "Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" (1985), die zum Teil politisches Engagement und Ironie wirkungsvoll vereinten. Der letztgenannte Titel - auch das eine Qualität - war übrigens derart griffig, dass er die Popband "Blumfeld" zu einem ihrer Songs inspirierte. Zwischenzeitlich lehrte Kluge als Professor an der Hochschule für Gestaltung in Ulm (Abteilung für Filmgestaltung) und später als Honorarprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt. Stets auch medienpolitisch aktiv, gründete er 1987 gemeinsam mit der japanischen Werbeagentur Dentsu Inc. und dem Spiegel Verlag die Development Company for TV Program mbH (dctp). Federführend bei den TV-Kulturmagazinen "10 vor 11", "News & Stories" und "Prime-Time/Spätausgabe", praktiziert er das "Fernsehen der Autoren" und überrascht den schlaflosen Zuschauer mit Heiner Müller-Interviews, langen Christoph Schlingensief-Nächten, seiner ungebrochenen Begeisterung für die Oper oder mit fingierten Gesprächen, "Fakes", mit Peter Berling, der für Kluge in die verschiedensten Rollen schlüpft. Seit Mai 2001 gehört zusätzlich der Metropolensender XXP in Berlin, eine Kooperation von Spiegel TV und dctp, mit in seine Verantwortlichkeit.
Film und Literatur gingen anfangs bei Alexander Kluge Hand in Hand, sie ergänzten sich, befassten sich mit ähnlichen Themen und spielten die jeweils eigenen Stärken aus. 1962 stellte er in der Gruppe 47 seine "Lebensläufe" vor, denen die "Schlachtbeschreibung. Der Untergang der 6. Armee" zwei Jahre danach folgte. Neben zahlreichen kultur- und medienpolitischen Schriften, etwa mit Oskar Negt, publizierte er immer wieder knappe analytische Szenen, historische und zeitgenössische Anekdoten, deren ganz einzigartiger Humor in unseren Breitengraden meist nur verschämt gelobt wird. Leicht zugänglich sind seine Prosaarbeiten wie die bitteren "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang" wohl nie gewesen. Der sachliche, lakonische Stil und die Präzision der Sprache treten allzu oft in einen Gegensatz zu inhaltlich disparaten Ereignissen, surrealen Beobachtungen und zum Teil fachwissenschaftlichen Absurditäten. Seine Poetik entlehnt er der dadaistischen Devise, man versuche mit einer Stadtkarte von Groß-London den Harz zu durchwandern. Zweck der elliptischen Erzählform, wie Kluge sie schätzt, ist es, die andernfalls verschwiegenen Nebensachen, z. B. der Historie, vor allem der mündlich weitergegebenen Geschichte von unten, aufzubewahren. Die lineare Erzählung betrachtet er hingegen als Ausnahme, das Verfolgen eines roten Fadens als "Autobahnstrategie", wohingegen er das "Gehen auf Pfaden und Gartenwegen, das Ahnen, Wandern und Spazierengehen" vorzieht, wie er es in einem Werkstattgespräch der "Neue Rundschau" veranschaulichte. Dortselbst umriss er seine eigentliche Berufung:
"Ich betrachte mich als jemand, der nach der Beendigung von Bürger- oder Religionskriegen über die Arten des Irrtums und der rotierenden Gefühle eine Sammlung anstellt, die sich mit den Sammlungen anderer - zum Beispiel denen eines Montaigne oder Michel Foucault - verbinden lässt. Es geht mir darum, Gefäße, Kisten, Röhren, Ampullen in einem Archiv bereitzustellen, in denen man Erfahrung aufbewahren und prüfen kann."
Daraus wird ersichtlich, zu welchem Ziel Kluges fragmentarisches Schreiben letztlich führen soll, nämlich zur Sammlung, zur unabgeschlossenen Enzyklopädie, zum multispektralen Kompendium. Ein ebensolches hat Kluge nach beinahe zwanzigjährigem literarischen Schweigen mit der zweibändigen "Chronik der Gefühle" vorgelegt. Diese Chronik umfasst mit mehr als 2.000 Seiten auch die ältere, teilweise überarbeitete Prosa, mehr als die Hälfte des Umfangs ist allerdings in den 90er Jahren entstanden. Wie ist diese ungeheure Produktivität zu erklären, nachdem das Schriftstellerdasein in den 80er Jahren so deutlich in den Hintergrund getreten war? Kluge gab anlässlich der Verleihung des Bremer Literaturpreises, den er als einziger Autor bisher gleich zweimal erhielt, auf diese Frage eine Antwort, die an seine Poetik anknüpft und gleichermaßen die Entscheidung der Darmstädter Jury legitimiert:
Er verwies auf die alexandrinische Bibliothek, an deren Wiederaufbau die Autoren noch heute arbeiten.
Mit seiner jüngsten Veröffentlichung "Die Kunst, Unterschiede zu machen", die zu einem großen Teil aus Kurzprosa der "Chronik der Gefühle" besteht, sind wieder einige Bruchstücke, mit Erfahrungen gefüllte Ampullen, nach Alexandria gelangt. Dieses aufklärerische Projekt voranzutreiben ist auch notwendig, denn wie hieß es im Vorwort der Chronik: "Die Bibliothek von Alexandria brennt für mich noch heute."
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