Niemand heißt Malina

Ingvild Folkvord zu drei Prosa-Werken von Ingeborg Bachmann

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"[M]ein nasses Haar trocknen vier Winde in ihrem wechselnden Haus", heißt es metaphorisch in einem frühen Gedicht Ingeborg Bachmanns, und in ihrem Roman "Malina" lässt die Autorin die namenlose Ich-Figur fast zwanzig Jahre später erklären, ihr sei der Topos "das Haus Österreich" immer "am liebsten" gewesen, denn er habe besser als alle andern Ausdrücke erklärt, was sie "bindet". Die sowohl im Gedicht als auch in "Malina" verwendete Haus-Metaphorik hat in Bachmanns Œuvre immer wieder eine gewisse Rolle gespielt. Mit Ingvild Folkvords Buch "Sich ein Haus schreiben" liegt nun eine Monographie vor, die diese Metaphorik erstmals in den Blick nimmt. Allerdings gilt Folkvords Interesse nicht dem gesamtem Œuvre Bachmanns, sondern nur drei Prosawerken: "Jugend in einer österreichischen Stadt" (Erstveröffentlichung 1959), "Malina" (1971) und "Drei Wege zum See" (1972). Zunächst sticht ins Auge, dass die der knapp zehnseitigen Erzählung "Jugend in einer österreichischen Stadt" und "Malina" gewidmeten Abschnitte mit jeweils vierzig Seiten gleich lang sind (derjenige zu "Drei Wege zum See" fällt mit siebzig Seiten fast doppelt so umfangreich aus). Sodann ist anzumerken, dass die Autorin darauf verzichtet, den Stand der Forschung zu reflektieren: Kurzerhand erklärt sie, sie habe nur "ausgewählte Beiträge" berücksichtigt, ohne die Kriterien ihrer Auswahl zu benennen. Hätte sie die bestehende Sekundärliteratur auf die Relevanz für ihr Unternehmen hin gesichtet, so wäre ihr jedenfalls nicht entgangen, dass Joachim Hoells Studie "Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum" (2000) nicht nur Wichtiges zu Bachmanns "Nachdenken über einen Verlust von Heimat" zu sagen hat - ein Verlust, der sich laut Folkvord in Bachmanns Reflexionen über das Haus niederschlägt. Ebenso wäre die Kenntnis von Hoells resümierender Lesart der drei Wege in Bachmanns Erzählung "Drei Wege zum See" als "Wege ins Nichts" und eines vierten, utopographischen Weges Folkvords Interpretation der Wege-Topographie in der Erzählung zugute gekommen. Darüber hinaus hätte ein Blick in Christine Kanz' Monographie "Angst und Geschlechterdifferenzen" (1999) Folkvords Klage überflüssig gemacht, dass die Ich-Figur als "leiblicher Körper" in der "schriftreflektierende[n]" Forschung der letzten zwanzig Jahre "an den Rand geschoben", wenn nicht gar "explizit abgelehnt" worden sei. Denn in einem ausführlichen Kapitel ihrer dem ,Todesarten'-Projekt gewidmeten Arbeit behandelt Kanz nicht nur den Körper "als Wahrheits- und Authentizitätsgarant", sondern beleuchtet darüber hinaus auch die "Körpersprache der Angst".

Doch hält Folvord von der Forschungsliteratur - jedenfalls soweit sie sie zur Kenntnis nimmt - insgesamt nicht sonderlich viel und folgt Reinhard Baumgarts Kritik an Sigrid Weigels Bachmann-Monographie "Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses" (1999) (vgl. die Rezension von Christine Kanz in literaturkritik.de 6/1999). Das Buch, so Baumgart, lasse eine "neue Idolisierung" erkennen, die Bachmann zur "Intellektuellen-Ikone" verfälsche. Der Kritiker überschätze Folkvord zwar die "Gefahr der Idolisierung", doch sei seine Klage berechtigt. Daher setzt die Autorin dort an, "wo Baumgart mit seinem Artikel aufhört", und moniert, dass die Forschungsliteratur der letzten Jahre nur "begrenzt" bereit gewesen sei, "eine begründete Kritik der Bachmannschen Prosa zu reflektieren". Diese bestehe etwa darin, dass Bachmann ihren Figuren zuwenig "Spielraum" lasse. Bachmann habe dies auch selbst erkannt, sei jedoch nicht in der Lage gewesen, es zu ändern. Weiterhin moniert Folkvord die "schwachen Poetisierungen" in der Erzählung "Kindheit in einer österreichischen Stadt" oder die "Überreflexion" des Romans "Malina". Der Roman sei ein "Textgewebe von ungeheurer Komplexität und Dichtheit", dessen "intertextuelle Konstruktionsweise" zu einer "Reduktion des semantischen Potentials" führe. So erweise sich die "Architektur" von Bachmanns "Texthäuser[n]" zwar als "stark und haltbar", doch liefen ihre Werke Gefahr, "die Imaginationsräume des Lesers zu stark abzugrenzen und zu determinieren". Von dieser Kritik wird nur die Erzählung "Drei Wege zum See" ausgenommen. Was von anderen als "fehlende kritische Erzählerinstanz" moniert worden sei, beschreibt Folkvord als "gelungene Herstellung eines Imaginationsraumes für den Leser".

Eine von Folkvords zentralen Thesen besagt, dass das Wort "niemand" in Bachmanns Werk häufig "als Indefinitpronomen und als Nomen funktioniert". Heißt es etwa in "Jugend in einer österreichischen Stadt": "Es ist nie mehr Licht im Haus. Kein Glas im Fenster. Keine Tür in der Angel. Niemand rührt sich und niemand erhebt sich", so interpretiert Folkvord das Wort "niemand" als "Namen für das in dieser Erzählung namenlose Kind". Mit dieser mehr als gewagten Lesart macht sie aus Stillstand Handlung. Doch nicht nur in der frühen Erzählung, auch in "Malina" spiele die "Figur 'Niemand'" eine "wichtige Rolle", was sich schon darin zeige, das niemand ein "unvollständiges Anagram" von Malina sei. Diese fulminante Entdeckung führt die Autorin zu der Erkenntnis, dass Malina gemeint ist, wenn im Text "niemand" steht. Und da Malina das rationale Prinzip vertritt, interpretiert Folkvord das einem der Intimität mit Ivan vorbehaltenem Raum geltende Verbot der Ich-Figur: "niemand hat dieses Zimmer zu betreten", als "Zwang zur Rationalisierung", welche die Trennung zwischen "erotischem Ausnahmezustand" und "rationaler Destruktion" unterminiere. Denn gemeint sei gerade, dass Malina und somit das rationale Prinzip in den "Raum der Liebenden" einbrechen müsse. Und wenn am Ende des Romans dem in der Wand verschwundenen Ich "niemand zu Hilfe [kommt], der Rettungswagen nicht und nicht die Polizei", so wird "niemand" auch hier als Name beziehungsweise als Nomen gelesen. Eine Lesart, die auch durch den Hinweis nicht plausibler wird, dass sie, wie die Autorin vermerkt, bereits von Franziska Frei-Gerlach auf "verwandte Weise" vertreten wurde.

Bedenkenswerter sind Folkvords Einwände gegen Interpretationen der Figuren Ich und Malina als Vertreter einer emotional konnotierten Weiblichkeit und einer rational konnotierten Männlichkeit. Diese Lesart führe zu "Vereinfachungen bezüglich der angeblichen Emotionalität des Ich". Denn durch die Zitate und Anspielungen erscheinen die Monologe der Ich-Figur und die szenisch gestalteten Dialoge als "subtile Konstruktionen eines übergeordneten Erzählers". So werde "innerhalb des Ich-Monologs" auf ein "Spannungsverhältnis zwischen einem erlebenden und einem analytisch konstruierenden Ich" verwiesen. Der "rationale Anteil des Subjekts" manifestiere sich daher nicht nur in der Figur Malina. Allerdings, so erklärt Folkvord weiter, durchlaufe die Ich-Figur bis in das dritte Kapitel des Romans hinein einen Erkenntnisprozess, in dem sie sich nur "mühsam" und mit Hilfe von Malinas "rettende[r] Rationalität" selbst verstehen und sich zu behaupten lerne. Erst im Verlauf des letzten Kapitels ändere sich das Verhältnis. Malina reagiere nun gewalttätig auf die "zunehmende Selbstbehauptung" des Ich. Eine Lesart mit der Folkvord der "resignierenden Rationalitätskritik", widerspricht, die vielfach in den Roman "projiziert" worden sei.

Titelbild

Ingvild Folkvord (Hg.): Sich ein Haus schreiben. Drei Texte aus Ingeborg Bachmanns Prosa.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2003.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3932324366

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