Von friedlichen und weniger friedlichen Inseln

Alberto Manguel als Autor, Leser und Vorleser

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literaturwissenschaftler, Essayisten, Lektoren, die über die Grenzen ihrer Fachwelt hinaus bekannt sind, die man in der ganzen Welt respektiert, sind bei uns selten. Diese rare und begehrte Spezies kommt eher aus dem europäischen oder amerikanischen Ausland, aber wo der Evolutionsdruck sie hervorbringt, da bereichern sie die Art. Ihre Arbeit ist von einer Kraft und einem sinnlichen Eros, der sie für Leser aller Nationen attraktiv macht.

In diesen besonderen Fällen haben wir es mit Grenzgängern zwischen der Literatur und der Literaturwissenschaft zu tun, mit Gebildeten alter Schule oder neuen Formats, so wie bei Alberto Manguel. Er ist Schriftsteller und Essayist, seine Bücher erzählen von der Lust der Lektüre, und der Autor selbst verfügt über vorzügliche Kenntnisse in den vier, fünf großen Weltsprachen, führt ein reiches Leben und Innenleben und weiß eindrucksvoll davon zu erzählen.

Manguel, als Sohn eines argentinischen Diplomaten 1948 in Buenos Aires geboren, lernte schon in seiner Kindheit verschiedene Länder und Sprachen kennen, erwarb sich Kenntnisse in Englisch, Französisch und Deutsch und war von 1964 bis 1968 Vorleser für Jorge Luis Borges. Heute lebt der kanadische Staatsbürger dauerhaft in einem kleinen Ort im Westen Frankreichs.

Noch während der Schulzeit jobte er in seinem Geburtsort Buenos Aires, und zwar in dem englisch-deutschen Buchladen "Pygmalion", wo auch Borges Kunde war. Lili Lenbach, die deutsche Besitzerin der Buchhandlung, vertrat die Ansicht, dass man die Bücher kennen müsse, die man anbietet. Von Manguel verlangte sie, dass auch er einen Teil der Novitäten lese.

Und als er dann sechzehn war, fragte der schon stark sehbehinderte Borges ihn, ob er ihm nicht vorlesen wolle, drei- oder viermal die Woche, aus Kipling, Schopenhauer oder einfach aus dem Lexikon. Von dieser Zeit mit Borges erzählt Manguel im Nachwort seiner Borges-Auswahl, und dieses Nachwort bildet auch die Brücke zu seinem neuen Buch, an dem er gerade arbeitet, einem Buch über Bibliotheken.

In jener aufregenden Zeit mit Borges war Alberto Manguel Vorleser und Sekretär in einer Person: Er nahm die Verse auf, die Borges gerade entworfen oder memoriert hatte, so dass in seiner Handschrift die neuen Gedichte des erblindeten Sehers erstmals Gestalt annahmen. Damals lernte Manguel die - vergleichsweise bescheidene - Bibliothek von Borges gut kennen; so schildert er uns etwa, wie die Sachgruppen auf die verschiedenen Zimmer der Wohnung verteilt waren:

- im Wohnzimmer Chesterton, Henry James, Kipling, Stevenson, Mark Twain, aber auch Spenglers "Der Untergang des Abendlandes";

- im Schlafzimmer Schopenhauer und Swedenborg, schöne Kombination, sowie das geliebte "Wörterbuch der Philosophie" von Fritz Mauthner; überhaupt waren Wörterbücher, Lexika, Enzyklopädien eine Sammelleidenschaft des Dichters;

- im Schlafzimmer standen "Grimms Märchen", das erste Buch, das Borges überhaupt gelesen hat - in englischer Übersetzung. Aber auch viel Deutsches fand sich in den Bücherschränken, Heinrich Heine beispielsweise. Alles in allem dürften die Bücherschränke den Giftschränken nicht unähnlich gewesen sein.

Der geborene Leser und Vorleser Alberto Manguel, der Vergleichende Literaturwissenschaft studierte und als Lektor, Kritiker und Übersetzer gearbeitet hat, veröffentlicht seit geraumer Zeit auch Literatur. Als "friedliche Insel" bezeichnet er die Wohnung des Dichters Borges, eine nicht ganz so friedliche Insel schildert er in seiner Erzählung, "Stevenson unter Palmen". Im Zentrum der Darstellung stehen die letzten Wochen im Leben von Robert Louis Stevenson, dem Autor der "Schatzinsel". Lungenkrank, von Fieberschüben gebeutelt, erfährt Stevenson eine halb surreale, halb gespenstische Welt, in der er zwischen Wahn, Traum und Wirklichkeit kaum mehr zu unterscheiden vermag. Es scheint so, als gingen die schrecklichen Ereignisse, von denen er erfährt, auf sein Konto, als führte er eine "Dr. Jekyll and Mr. Hyde"-Existenz.

Ein Teil von Manguels Werk ist auch auf Deutsch erschienen, darunter der Roman "Im siebten Kreis" (1996 bei Volk und Welt und 1999 bei Rowohlt). Übersetzt liegt auch sein "Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur" vor, unter dem Titel "Von Atlantis bis Utopia" (bei Ullstein). In seinem wohl bekanntesten Buch, dem 1998 ins Deutsche übersetzten Essay "Eine Geschichte des Lesens", erzählt Manguel, quer durch die Jahrhunderte, von Schriftstellerkollegen und ihrem Verhältnis zum Lesen. Sein Werk summiert sich zu einer Kulturgeschichte der Lesefertigkeiten und einer Darstellung persönlicher Erfahrungen als Leser.

Titelbild

Alberto Manguel: Stevenson unter Palmen. Erzählung.
Übersetzt aus dem Englischen von Chris Hirte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2000.
109 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3100477502

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jorge Luis Borges: Im Labyrinth. Erzählungen Gedichte Essays.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Alberto Manguel.
Übersetzt aus dem Englischen von Chris Hirte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2003.
333 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-10: 3596506328

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