Grundlagenwerk der Sozialphysik endlich übersetzt
Suhrkamp schließt mit Tardes "Gesetze der Nachahmung" eine eklatante Lücke
Von Stephan Günzel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist da! -113 Jahre hat es gedauert, bis das 1890 erschienene Buch des Kriminologen und soziologischen Vordenkers Gabriel de Tarde, "Les Lois de l'imitation", ins Deutsche übertragen war. Nun liegt der Vorläufer der schon 1908 übersetzten "La logique social" in einer schönen Ausgabe im Suhrkamp Verlag in der angenehmen Übersetzung von Jadja Wolf vor. Was entging den gegenüber Frankreich ohnehin zwiespältig eingestellten Philosophen, Soziologen und Psychologen hierzulande? Nichts weniger als ein wesentlicher Baustein zum Verständnis der Ausrichtung auf das Denken der 'Differenz', das jenseits des Rheins gepflegt wird. - Deleuze wäre ohne es nicht möglich, Bourdieu ebenso wenig. Mit Bergson, mit dem er zeitgleich am Collège de France lehrte, teilte sich Tarde zur letzten Jahrhundertwende ein neues ontologisches Paradigma: Eine nicht rationale Kraft trägt die Erscheinungen zyklisch weiter. Was für Bergson der ,Elan vital' ist für Tarde die 'universelle Wiederholung'.
Darunter verbergen sich für Tarde Wiederholungsarten auf drei Ebenen: Eine atomare Ebene molekularer Schwingungsbewegungen, die biologische Ebene der Fortpflanzung und zuletzt die der sozialen Nachahmung. Für alle drei Ebenen gelten zwei Aspekte: 1. 'Ähnlichkeit' wird auf ihnen mittels der Wiederholung hergestellt (der Lichtstrahl durch Wellenbewegung, die Arterhaltung durch Reproduktion der Individuen und die sozialen Eigenheiten durch Mode, Erziehung, Gebräuche und dergleichen). - Zwischen den drei Ebenen gibt es eine Beeinflussung derart, dass die 'niedere' auf die höhere wirkt, nicht aber umgekehrt. 2. Die Wiederholung bringt oberflächlich Gleiches, wohl aber nie völlig Identisches hervor; vielmehr gibt es die "Wiederholung [um] der Variation willen." - Identität beruht auf Differenz.
Im Zentrum der Schrift stehen die sozialen Wiederholungen, die Herausbildung von Gruppen oder Klassen als "Fortpflanzung über Entfernung", die sich "präsozial oder subsozial" vollzieht. Über weite Strecken enthält das Buch daher Nacherzählungen historischer Ereignisse im Lichte der Wiederholung. 'Interferrenzkämpfe', von Tarde sogenannte 'Gegennachahmungen', erklären das Überdauern logisch wie pragmatisch widersinniger Ansichten, aus denen sich Kriege und Konflikte speisen. Tarde spricht vom 'Somnambulismus' des sozialen Menschen, seines Schlafwandelns in (der) Gemeinschaft. Im Vorgriff auf die seinerzeit an Popularität gewinnende Hypnose prägt Tarde zur genaueren Beschreibung den Begriff der 'Suggestion' als "ansteckende Nachahmung". Entsprechend lobte der italienische Kriminologe Scipio Sighele Tarde sieben Jahre nach Erscheinen der 'Gesetze' dafür, darin eine "Psychologie des Atoms, d. h. eine Philosophie des Unbewussten", erahnt zu haben, "die heute noch so unbekannt und rätselhaft ist". Eben das Phänomen der 'Suggestion', welches Freud in seiner "Massenpsychologie" von 1921 vergebens zu erklären versuchte.
Das eigentliche Gegenbuch zu Tarde erschien im Jahr der Zweitauflage der 'Gesetze', 1895: der 'Machiavelli' Hitlers und Mussolinis, Gustave Le Bons "Psychologie der Massen". Le Bons bürgerliches Bollwerk zeichnet darin die Stigmatisierung der Massen als blinde, wesentlich von krimineller Energie und Gesinnung angetriebene Entität dar, in der jeder Mensch seine sozialen Fähigkeiten verliert/unfreiwillig ablegt. Daher bedarf die Masse nach Le Bon des Führers. Für die Einschätzung der sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts wurde eine Weiche gestellt. Vielleicht wäre die Geschichte nicht anders verlaufen, aber interessant ist die Überlegung schon, was anders hätte sein können, wenn man auf Tarde gehört hätte. Er glaubt von vornherein nicht an die Möglichkeit einer Trennung von bewusstem und unbewusstem Tun. Im Sozialen ist alles unbewusst bzw. irrational, insofern nicht Vernunft, sondern Infektion die Menschen steuert, und dies nicht zu ihrem Nachteil: "Der Fortschritt ist eine Art kollektive Meditation ohne Gehirn ."Erfindungen und Entwicklungen gehen aus Nachahmung ebenso hervor wie sich die gelingende Assimiliation auf sie gründet. Hier spricht kein Geschichtsoptimist, sondern ein sozialer Realist: Was der Magnet für die Physik, ist die Mode für die Gesellschaft.
Das Buch birgt neben seiner historischen Dimension eine überaus aktuelle: Es diskutiert die Bedeutung des Blicks der grabenden Archäologie als prädestinierte Kulturwissenschaft, die im Geleit der Statistik das Verständnis von Geschichte und Kultur auf die materiellen Grundlagen der Häufigkeit von Gleichartigem zurückführt. Nicht der Wert des Stils, sondern sein Auftreten entscheidet kulturelle Prägungen, die quer durch die Kulturen laufen: So verbinden die ersten Pfahlbauten Schweiz mit Neuguinea. Tarde ist damit einer der ersten, der den auf Rassentypiken und -identitäten fixierten Humanwissenschaften ein anderes, strukturales Interpretationsschema empfahl. "Die Historiker sind nur mehr zweitrangige Führer und Hilfskräfte der Ausgräber, welche uns all das offenbaren, was die anderen verschweigen." Nicht Schlachten, sondern die Wege von Bronze und Pfeffer haben uns zu dem werden lassen, was und wo wir sind: "Im Unterschied zu diesen schlechten Küchenmeistern der Wirklichkeit [sc. den Historikern] [...] betreiben die Archäologen reine Soziologie. [...] Für die Archäologen besteht also die vereinfachte und verwandelte Geschichte schlicht im Erscheinen [...]."
Leider ist das zunächst angekündigte Vorwort von Peter Sloterdijk entfallen. (Es ist auch schwer vorstellbar, wie der ausgesprochene Massenverachter an Tardes Implikationen wirklich gefallen hätte finden können, es sei denn, er hätte sie kulturpessimistisch umgedreht.) Tardes Buch ist - trotz des hohen Preises - ein Muss sowohl für die erstmalige wie für die wiederholende Lektüre.