Historische Perspektiven auf die Beziehungen zwischen Dörfern und Städten

Ein Überblick vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Von Jochen EbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Ebert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Nivellierung der Differenzen zwischen Städten und Dörfern in Deutschland seit Mitte der 50er Jahre wirft nicht nur hinsichtlich der Definition der beiden Siedlungsformen Fragen auf. Mit ihr wurde auch die Analyse von Stadt und Dorf als deutlich voneinander getrennter, eigenständiger Lebensräume problematisch. Dies nahm der "Arbeitskreises für Agrargeschichte" 1999 zum Anlass, die Beziehungen zwischen Land und Stadt im deutschsprachigen Raum vom Mittelalter bis zum späten 20. Jahrhundert im Rahmen einer Tagung zu diskutieren. Die Ergebnisse präsentiert der von Clemens Zimmermann herausgegebene Sammelband.

Einleitend skizziert Clemens Zimmermann einerseits die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen der Fächer Geschichte, Geographie, Volkskunde und Soziologie, andererseits die zeitlich und regional differierenden Beziehungen zwischen Dorf und Stadt. Insgesamt betont er die Reziprozität der Beziehungen und die strukturellen Gemeinsamkeiten. Heide Wunder weist in ihrem Kommentar darauf hin, dass die Zuschreibungen von ,Stadt als fortschrittlich' und ,Dorf als traditionsverhaftet' im 19. Jahrhundert gebildete Sichtweisen zur Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen tradieren.

Die Land-Stadt-Beziehungen im Mittelalter werden von Werner Rösener vor allem als demographische, wirtschaftliche, herrschaftliche und kulturelle Abhängigkeiten dargestellt, die trotz aller Asymmetrien verbindende Funktion besaßen. Kritisch merkt Dorothee Rippmann in diesem Zusammenhang die Großstadtlastigkeit der Mittelalterforschung an und plädiert für eine stärkere Berücksichtigung der Beziehungen zwischen Kleinstädten und Dörfern.

Für das 15./ 16. Jahrhundert konstatiert Rolf Kießling eine Entwicklung vom strukturellen Gleichgewicht zum Übergewicht der Stadt, für das 17. Jahrhundert eine Tendenz zur Abflachung des hierarchischen Gefüges. Der Kommentar Peter Kriedtes fordert, das selbständige Handeln der Dorfbewohner und deren Anteil an Modernisierungsprozessen stärker zu berücksichtigen.

Die wechselseitige Wahrnehmung von Städtern und Dörflern und deren Niederschlag in Kunst, Literatur und Verwaltungsakten thematisiert Barbara Krug-Richter. Negativ- wie Positivstilisierungen basierten kaum auf einer konkreten Wahrnehmung des Gegenüber sondern spiegelten Problemlagen der Ausgangsgruppen. Der geforderte, forschungsstrategische Perspektivwechsel, weg von den Bildern hin zu konkretem Handeln, wird von Ursula Liebertz-Grün in ihrem Kommentar bekräftigt.

Der Ressourcentransfer vom Land in die Stadt wird von Edwin Ernst Weber am Beispiel der schwäbischen Reichsstadt Rottweil untersucht. Die hieraus erwachsenen Konflikte beurteilt er als Nachweis gegensätzlicher Interessenlagen. Dagegen führt Martina Schattkowsky Parallelen zu Konflikten zwischen Untertanen und adeligen Grundherrn an, was darauf hindeutet, dass die geringere Akzeptanz städtischer Herrschaft nicht allein vor dem Hintergrund städtischer Wirtschaftsinteressen zu klären sei.

Die Lese- und Schreibfähigkeit der ländlichen Bevölkerung steht im Mittelpunkt des Beitrags von Klaus-J. Lorenzen-Schmidt, da die Kontakte zwischen Dorf und Stadt im 18. und 19. Jahrhundert in zunehmenden Maße schriftlich vermittelt wurden. Dies bestätigt auch der Kommentar von Reiner Prass, der an den regen Schriftverkehr zwischen städtischen Verwaltungsstellen und lokalen Beamten, aber auch an zahlreiche Bittgesuche von Dörflerinnen und Dörflern erinnert.

Mit der temporären Arbeitsmigration von hessischen, badischen und fränkischen Dorfbewohnern zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert beschäftigt sich Robert von Friedeburg. Stefan Brakensiek verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Transfers von städtischem Einkommen in das Dorf zur Sicherung kleinbäuerlicher Existenzen.

Die gemeinsamen politische Interessen von dörflichen und städtischen Gruppen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind Thema von Frank Konersmann. Auf die Bedeutung des dörflichen Vereinswesens für die Übertragung von politischen Begriffen von der Stadt auf das Land verweist in diesem Zusammenhang Gunter Mahlerwein.

Die Krisen der Lebensmittelversorgung 1916-1923 und 1945-1950 und die hieraus resultierenden Stadt-Land-Konflikte beschäftigen Ulrich Kluge. Die Konzentration auf den ökonomischen Bereich erfasst, so der Kommentar von Daniela Münkel, nur einen Teil der Problemlage. Ein erweiterter Erklärungsansatz müsste die politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Brüche im Untersuchungszeitraum einbeziehen.

Peter Exners Artikel widmet sich der Metamorphose des Dorfes zur Vorstadt nach 1945 am Beispiel dreier Landgemeinden Westfalens und konstatiert eine zunehmende Ausrichtung der Dorfbewohner an städtischen Verhaltensmustern. Die Übersiedlung von Städtern in stadtnahe Dörfer belege aber auch, dass es sich um eine gegenseitige Annäherung der Lebensformen handele. Michael Kopsidis weist in seinem Kommentar darauf hin, dass es sich um einen Veränderungsprozess handele, der bereits Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte.

Das Zusammenwachsen von Land und Stadt mit Blick auf die Gegenwart wird auch von Thomas Fliege beschreiben, doch betont er, dass Differenzen blieben. Andreas Gestrich merkt in seinem Kommentar an, dass die am Stadtrand gelegenen Dörfer, die durch enormen Zuzug aus der Stadt zu Vorortgemeinden geworden seien, nicht aus dem Blickfeld geraten dürften.

Die Dynamik der Stadt-Land-Beziehungen resümiert Werner Trossbach als Resultat einer Interaktion, die als Kooperationen zu verstehen ist. Als Erklärungsansatz für Wandelbarkeit der dörflichen Verhältnisse verweist Trossbach auf das Modell von Johann Heinrich von Thünen, des Begründers der Agrarökonomie in Deutschland.

Insgesamt bietet der Sammelband ein vielgestaltiges und anregendes Bild der Beziehungen zwischen Dorf und Stadt. Zugleich zeigt er die Vielzahl der Perspektiven auf die Interaktionen zwischen Land- und Stadtbewohnern. Damit erweitert der Sammelband nicht nur unsere Kenntnisse, sondern eröffnet zugleich neue Forschungsperspektiven.

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Clemens Zimmermann: Dorf und Stadt. Ihre Beziehungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart.
Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft Verlag, Frankfurt 2001.
310 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3769005996

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