Von Ort zu Ort im literarischen Berlin

Der "Literarische Führer Berlin" bietet Material für den literarischen Flaneur

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am besten würdigt man einen Führer wie diesen durch eine Überprüfung in der Praxis. Also: Im Theodor Fontanes Roman "Der Stechlin" erhält Woldemar, der Sohn des alten Stechlin, im 14. Kapitel von Melusine eine Einladung zu einer kleinen Landpartie. "Das Ziel unserer Fahrt", so teilt Melusine dem jungen Stechlin mit, "hat einen ziemlich sonderbaren Namen und heißt das ,Eierhäuschen'." Wir suchen den Ort im "Register der Straßen, Plätze und öffentlichen Gebäuden, Parks und Friedhöfe" des Literarischen Führers und finden ihn in Treptow: "Nicht minder berühmt am Rand des Plänterwaldes, südlich vom Spreepark, am Spreeufer das ,Eierhäuschen'. Es ist wichtiger Schauplatz von Theodor Fontanes ,Stechlin'. Heute, "so erfahren wir weiter, "firmiert das ,Eierhäuschen' als ,Café der Jugend'".

Zweite Probe: Was erfahren wir über Martin Kessel (1901-1990), der seit 1923 in Berlin lebte und dessen Großstadtroman "Herrn Brechers Fiasko" ein markantes Bild auf das Berlin der Angestellten vor der Nazi-Machtergreifung vermittelt? Er lebte "meist rund um die Künstlerkolonie Wilmersdorf, u. a. 1923-27 Landauer Straße Nr. 16, 1928-49 Kreuznacher Straße Nr. 48, zuletzt Laubenheimer Straße Nr. 5." Den Roman vollendete er in Wilmersdorf "in der ,Stempelburg' am Laubenheimer Platz, wie das Haus Kreuznacher Straße Nr. 48 im ,Roten Block' wegen der vielen arbeitslosen Künstler auch genannt wurde."

Im dritten Beispiel folgen wir einem der Rundgänge, die den Hauptteil des Buches ausmachen, durch Berlin Mitte zu Schinkels Neuer Wache. Dort befindet sich seit 1993 die "Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft". Unerwähnt lässt der Literarische Führer, dass der Ort bereits 1931 von Heinrich Tessenow zur "Gedächtnisstätte für die Gefallenen des Weltkrieges" gestaltet wurde, und die DDR das kriegszerstörte Gebäude zum "Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus" herrichtete. Aber er verweist auf die Kontroverse um die Neugestaltung der Neuen Wache 1993 und zitiert Walter Jens, der in diesem Zusammenhang eine Bemerkung Siegried Kracauers aus dem Jahre 1931 anführte: "Nicht die beflissene Darstellung eines Gehalts ist geboten - was wissen die Menschen vom Tod? - sondern die äußerste Enthaltsamkeit ihm gegenüber. Eine Gedächtnisstätte für die Gefallenen im Weltkrieg: sie darf wenn wir ehrlich sein wollen, nicht viel mehr als ein leerer Raum sein ..." Statt dessen hockt nun aber drinnen elefantös eine unwürdig aufgeblasene Figur, die einmal Käthe Kollwitz' Skulptur "Mutter mit totem Sohn" war. Der Führer enthält sich weise dieser Beurteilung.

Der Literarische Führer Berlin, der - 1997 erstmals erschienen - nun in der dritten Auflage vorliegt, stellt in den drei Eingangskapiteln "Berliner Autoren", "Autoren in Berlin" und "Berlin in der Literatur" zunächst über 700 Autoren vor, die als ,echte' oder ,zugezogene' Berliner "entscheidende Impulse für ihr Werk hier empfangen haben." Im Mittelpunkt steht dabei die Suche nach dem verlorenen Ort: Wohnhäuser, Arbeitsplätze, Gräber und Gedenkstätten werden vorgestellt. Literarische Stadt- und Straßenführer im eigentlichen Sinne aber sind die Rundgängen durch die 23 ,alten' Bezirke Berlins. Hier kann der Flaneur diese literarischen Orte selbst entdecken. Von besonderem Reiz ist dabei die jeweilige Verschränkung der biographischen Stationen eines Autors mit den ,fiktiven' Orten seiner Romane, was der Literarische Führer durch eine Fülle von Hinweisen anzuregen versteht.

Abgerundet wird dieser füllige Führer durch knappe informative "Exkurse", die grau hinterlegt in den Text eingefügt sind. Hier finden sich die Stadtorte zu Themen wie "Die Romantiker", "DADA in Berlin", "Russen in Berlin", "Widerstand", "Kleine Literaturgeschichte der DDR" oder "Prenzlauer Berg". In gleicher Weise werden ,Berlin-Gedichte' von Adelbert von Chamisso, Yvan Goll, Erich Kästner, Rainer Kunze u. v. a. in den Text eingefügt. Acht "Sonderkarten" dienen als Wegweiser zu speziellen Themen wie "Spurensuche Rosa Luxemburg", "Emil und die Detektive" oder "Jüdischer Friedhof Weißensee".

Stimmen alle Informationen? Fehlt etwas? Ich möchte das nicht entscheiden, nur soviel: falls etwas vergessen wurde, freuen sich die Herausgeber bestimmt zu erfahren, was es war.

Titelbild

Fred Oberhauser / Nicole Henneberg: Literarischer Führer Berlin. Mit zahlreichen Abbildungen, Karten un Registern.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
527 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-10: 3458338772

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