Das Genie des 20. Jahrhunderts

Gertrude Stein über Pablo Picasso und die Kunst des 20. Jahrhunderts

Von Andreas BaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Baumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielleicht ist der Blick von Gertrude Stein die erste Erfindung des Kubismus. Verliert das Gesicht in Pablo Picassos berühmtem 'Portrait de Miss Gertrude Stein' nicht bereits die Perspektive? Die Entstehungssituation des Gemäldes ist reich an Aspekten: Paris 1905; die Kunstsammlung der Geschwister Gertrude und Leo Stein; der jour fixe an ihrem Wohnsitz in der Rue de Fleurus, später Taufstätte und Orakel für die Dichter der 'Lost Generation' in Paris; Arbeit an der einflussreichen Erzählung "Melanctha", am frühen opus magnum "The Making of Americans"; das in Sammlerkreisen publik werdende Ingenium des spanischen Malers; erstes Zusammentreffen beim Kunsthändler Sagot; der Beginn der Sitzungen in Picassos Atelier; Abbruch nach neunzig Sitzungen: "I can't see you any longer when I look" (Picasso, laut Stein); die Ausstellung altiberischer Plastik im Louvre; Picassos Reise ins katalanische Bergdorf Gósol und die Lösung von der psychologischen Konvention; Rückkehr des Malers nach Paris und Abschluss des Gertrude-Stein-Porträts: freie Übermalung des Gesichts in maskenhafter Monumentalität.

Dieses Bild bleibt als malerisches Erkennungszeichen für eine Schriftstellerin, deren Person Anteil hat am Mythos der modernen Kunst wie Picasso an deren Ruhm. Mit dem Beginn ihrer Freundschaft zu Picasso wird Gertrude Steins Poetik, zufällig oder nicht, deutlich zu einer Poetik des Rühmens. Auch da, wo ihre Texte sich ans rationale Verständnis wenden, wie es ihre späteren "lectures" tun, gehören sie rhetorisch dem genus demonstrativum an. Sie dienen weniger der Argumentation als der Ausstellung des Gegenstands. Seine Bestätigung findet das in ihrer Hinwendung zum literarischen Porträt. Die dabei ihrem Freund Picasso gewidmeten Texte - sie sind innerhalb von knapp 30 Jahren entstanden - werden jetzt, erstmals alle in deutscher Sprache versammelt, vom Arche-Verlag in einem kleinen Band präsentiert. Die Übersetzungen von Roseli und Saskia Bontjes van Beek sind entweder Überarbeitungen eigener, älterer Übersetzungen oder Neuübertragungen. Das erste, 1909 verfasste und 1912 erschienene Picasso-Porträt liegt hier das erste Mal überhaupt auf deutsch vor.

Der gattungstypische Appell an die Erinnerung kam für die Porträtdichtung Gertrude Steins nicht in Frage. Über die Absicht, alles aus der Charakterzeichnung herauszuhalten, was mit dem Wiedererkennen zu tun hat, findet sie zum Porträt. Wenn es den Dingen darin gewährt wird, sich selbst auszudrücken, dann mit dem Sinn, dass sich ihr Gedenken in der Impulsivität entfalte, mit der sie im Gegenwärtigen wirken. Ohne Zweifel sind hier Motive am Werk, die sie in Auseinandersetzung mit Gedanken ihres akademischen Lehrers William James gewonnen hatte, namentlich die in der modernen angelsächsischen Literatur als "stream of consciousness" bekannt gewordene Vorstellung eines perzeptiven Seins, das sich in minimalen Differenzen kontinuierlich vergegenwärtigt. Entsprechend ist auch das Picasso-Porträt von 1909 eine stetige Permutation von einigen wenigen Sätzen und deren innerem Bau. Unter dem Titel "Picasso" figuriert dort ein Charakter, dessen Wirken sich sowohl aus schöpferischen als auch aus anziehenden Kräften komponiert: aus einem unaufhörlichen Arbeiten, einem unaufhörlichen Hervorbringen und aus so etwas wie Charme, das sich in seiner Gefolgschaft bestätigt. Hier schwingt die grammatische Serie in einem exzentrischen Humor. Unerschütterlich ist sie dort, wo sie den "Rhythmus der Persönlichkeit" (Stein) erreicht, um die es geht. Besonders der schräge Gebrauch der Form "being", die zuweilen simultan ins Partizip, in die intensivierende Verlaufsform und das Substantiv zu treten scheint, stellt dabei eine Herausforderung für die Übersetzung dar. Sie muss sich mit Adverbialkonstruktionen, etwa unter Verwendung von "weiter" oder "immer", behelfen. Dadurch verliert die Übertragung gegenüber dem Original zwar an poetischer Kraft. Indessen bleibt sie tendenziell im Register des Stils von Gertrude Stein, der sich bald zunehmend in Partikeln auskristallisiert.

So löst sich die Sprache seit dem Band "Tender Buttons", einer Sammlung von Ding-Porträts, von der Grisaille der frühen, kinematischen Porträts und erreicht eine komplexe Geometrie, die auch das zweite Picasso-Porträt von 1923 beschreibt. "Exakt wie Mathematik" sollte ihr Schreiben werden, so Stein, alle Wörter ausgeschieden, die mehr sehen ließen als "das Bild im Rahmen". Das Gerahmte aber wird dann eine Bewegungsspur bilden, die Figur der besonderen Zeitlichkeit des Sujets. Hier nähert sich Gertrude Steins Erfindung tatsächlich sehr eng den Lösungen an, die der Kubismus in der "peinture conceptuelle" (Daniel-Henry Kahnweiler) gefunden hatte: Das Bild fungiert dort als Anweisung, den bewegten Gegenstand im Geiste zu konstruieren. Um die Grundbedingung dieser Gestaltung zu schaffen, einen "Raum, der als Ganzer angefüllt ist mit Bewegung" (Stein), muss das Sehen sich zu seinen natürlichen Vorgaben in Distanz halten. Das Bild begegnet dem Sehen in nächster Nähe zum Begriff - im zeichnerischen Verlangen nach einem allseitigen Durchgreifen des Dings im Raum. Dieser szenische Raum gehört aber auch einer imaginären Geographie an. Sein Name lautet dort Amerika.

Unaufhörliche Veränderung der Lebenswelt im Focus des Schreibens, das resultierte bei Gertrude Stein in einer analytischen Literatur für die sich der Realismus des 19. Jahrhunderts mit seiner psychologischen Norm überlebt hatte. Im Paris des beginnenden 20. Jahrhunderts bot sich die Malerei den dabei aufkommenden Problemen als zunächst zeitweiliges Exil an. In der bildenden Kunst wurde seit Cézanne die geregelte Übereinstimmung zwischen der Komposition der Bildfläche auf der einen Seite und der Natürlichkeit des Gegenstands auf der anderen nicht mehr ohne weiteres hingenommen. Die malerische Befragung der Komposition konnte als Modell dienen für analoge Operationen im literarischen Verhältnis von Seele und Welt. Im Paris jener Jahre entbrannten über die hier bildkünstlerisch anhängigen Fragen Auseinandersetzungen mit fast tagespolitischer Bedeutung. Gewiss unterstützte dieses polemische Milieu Gertrude Steins eigensinniges Temperament dabei, für sich abzumachen, was literarisch möglich war und was nicht, nachdem es ihr mit der Malerei eine höchst lebendige Formation künstlerischer Wahrnehmung vor Augen geführt hatte, deren Problemstellungen sie ihrem Schreiben einimpfen konnte, um es gegen die Naturalisierungen der literarischen Konvention zu immunisieren. Während die Malerei sich auf dem Weg zum Kubismus der Zeitdimension des literarischen Sujets anzupassen schien, übernahm das Schreiben der Stein das malerische Bewusstsein von der Formveränderung des natürlichen Gegenstands.

Es ging dann auch nicht ohne eine leichte Fiebrigkeit ab. Sie findet sich noch in der futuristischen Note des großen Picasso-Essays von 1938 wieder. Das im Kubismus gipfelnde Künstlertum des Malers wird dort durch den Versuch charakterisiert, "gesehene Dinge auszudrücken nicht wie man sie kennt sondern wie sie sind wenn man sie sieht ohne sich zu erinnern sie je betrachtet zu haben" (Stein). Schnell wird deutlich, dass dieses von der Malerei erfasste Problem hier als eines wirkt, das sich der Kunst des 20. Jahrhunderts überhaupt stellt - auch dem Schreiben. Nicht von ungefähr erblickt Stein die Disposition zur Lösung der Aufgabe in der literarischen Begabung des Malers. In Picassos Bilderfindung etwa zeige sie sich in der grundlegenden und gewollten Abhängigkeit der Zeichnung von der Schrift. Der Nachweis dieser im wörtlichen Sinne ikonographischen Verwandtschaft nimmt großen Raum in ihrer Darlegung ein. Darauf, dass sich das kubistische Bild wie ein Schriftzeichen entfaltet, ist von Anbeginn an hingewiesen worden. Vielleicht wichtiger aber erscheint in diesem Zusammenhang die Deutung der ästhetischen Existenz des Künstlerfreundes. Hier schon steht Picasso auch außerhalb seines Metiers, denn, anders als die Maler für gewöhnlich, spiegele er sein Wollen nicht in der gemalten Welt seiner Bilder wider. Um so stärker sei sein Verlangen, die eigene schöpferische Gegenwart in actu zu erfassen, unabhängig vom vergegenständlichten Werk. Das aber ist für Stein die Haltung des Schriftstellers.

Nur auf die selbstbewusste Originalität des Künstlers gegründet, geht diese "Malerei die ein Schreiben war" (Stein) hinweg über den vorgefundenen Zusammenhang des Sichtbaren. Der männliche Zug der Erzählführung und die Art und Weise, wie in dieser Geschichte Picassos ein Leben der Entscheidung ausgestellt wird, verbildlicht und glorifiziert die Selbststellung der "Vision", deren heroische Einfachheit für Gertrude Stein das Kennzeichen des Genies markiert. Die Möglichkeit und das Werk des Kubismus - "etwas das in sich selbst existierte ohne die Hilfe von Assoziation und Emotion" - leistet im Falle Picassos die Beweisführung. Ihr dient ein mythischer Grund der Moderne zur Bezugsnorm, die später, skeptisch gewendet, zu einem Topos der Kunstkritik wurde: "Das Selbst als Ursprung ist vor der Ansteckung durch die Tradition geschützt, weil es eine Art ursprüngliche Naivität besitzt (Rosalind E. Krauss )".

Was der seiner Zeit bewusste Künstler von seinem Jahrhundert verzeichnet, nennt Gertrude Stein die "Komposition" des Jahrhunderts, fast als sollten hier die ästhetischen Ideen, diese objektive Erdung der klassischen Genieästhetik, in der gesellschaftlichen Struktur verankert werden - in dem Moment allerdings, in dem diese sich allerorten zu zerstören beginnt. Für Stein lässt sich jede Epoche in der ihr eigenen Komposition erfassen, sie ist stets der Inbegriff der Maßverhältnisse, in denen sich die historische Natur der Dinge dem Sehen abbildet. Dem gewöhnlichen Bewusstsein aufgrund ihrer Gewöhnlichkeit unsichtbar, gewinne die künstlerische Formulierung der Komposition erst für die folgende Generation einen Kunstwert. Die künstlerische Gestaltung erscheint dann als absolute Schöpfung, was sie eigentlich nicht ist, was von Stein aber auch nicht direkt ausgeschlossen wird. Im Zentrum ihrer Geschichte Picassos jedenfalls bleibt es eine ambivalente Beobachtung, die Gertrude Stein ganz gewiss auch im Hinblick auf die lang anhaltende öffentliche Missachtung ihrer eigenen, schriftstellerischen Arbeit mitteilt.

Das Sehen besitzt Zeitform: Als der visuellen Formulierung selbst aufgegebenes Problem steht dies am Beginn der Kunst des 20. Jahrhunderts. Es ist der Übersetzung von Roseli und Saskia Bontjes van Beek, die überhaupt sehr um Wörtlichkeit bemüht ist, in diesem Zusammenhang positiv anzurechnen, dass sie für Gertrude Steins Formulierung "vision" auch das deutsche Wort "Vision" verwendet, wo die Übertragung Ursula von Wieses aus dem Jahre 1958 mit "Anschauung" übersetzt, weil so die gestalterische und Führung beanspruchende Bedeutungskomponente des Wortes erhalten bleibt. Das gilt trotz der Korruption, die der Ausdruck durch den Sprachgebrauch eines gewissen politökonomischen Reformjargons erlitten hat.

In der Befreiung des Genies Pablo Picassos, die der Essay nachzeichnet und die eine Befreiung des Sehens ist, dramatisiert Gertrude Stein ihre Phänomenologie des Genies des 20. Jahrhunderts. Sie spielt sich ab im Rahmen einer kriegerisch geprägten Mythologie nationalspezifischer Kulturformationen. Dass Gertrude Stein auch eine kulturschaffende Kraft des politischen Krieges affirmiert, lässt sich nicht übersehen. Wie der Kubismus ohne den Ersten Weltkrieg keinen Erfolg gehabt hätte, so erscheint ihr der Beginn der modernen amerikanischen Literatur ohne den Amerikanischen Bürgerkrieg undenkbar. Mit diesem amerikanischen Beginn beginne das 20. Jahrhundert. Von allen Nationen atme nur Spanien den gleichen Geist. Amerika und Spanien werden ihr die "natürlichen Begründer des zwanzigsten Jahrhunderts", denn beide bräuchten "keine Religion und keinen Mystizismus um nicht an die Wirklichkeit zu glauben wie alle Welt sie kennt, nicht einmal wenn sie sie sehen."

Die amerikanische Literatur als letzte große Nationalliteratur des 19. Jahrhunderts war zugleich die erste Literatur von substantiell internationalem Format und damit ohne Zweifel das Modell der modernen Literatur des 20. Jahrhunderts, deren Dynamik auch im literarisch ambitionierten Bildraum des Kubismus spürbar wird. Als Rahmung dieser Picasso-Geschichte aber kehrt die ausgeschlossene psychologische Motivation in einer der Zeitstimmung entsprechend ziemlich gängigen Völkerpsychologie wieder: ein neuer Mystizismus, mehr Begründung nicht, als sie der Kunstliebhaber verträgt. Wenn Gertrude Stein im Finale ihres Essays das 20. Jahrhundert mit großer Geste wegen seiner "Großartigkeit" (splendor), von dem vorangegangenen, durch seine "Vernünftigkeit" bestimmten 19. Jahrhundert abhebt; wenn sie Picassos Guernica-Gemälde lediglich als Wiedergeburt seines schöpferischen Elans nach der Schaffenskrise feiert, als Wiederinnewerden seines spanischen Charakters; wenn sie andererseits ganz zutreffend das 20. Jahrhundert durch seine beispiellose Destruktivität identifiziert, das aber nur, um es in seiner Kongenialität mit Picasso auszustellen, dann bemüht sie angesichts der schon bis 1938 offenkundigen Verheerungen des Jahrhunderts einen Geschmack von sehr spezieller Erlesenheit.

Was die Zerstörung der historischen Zeit aber hinterlässt in der Wahrnehmung der von inneren und äußeren Kriegen zerrissenen Gesellschaft, die Rückstände des gesunden Menschenverstandes, erhält an dieser Stelle, wo entgegen der Grundregel der Autorin einmal das Prinzip der Klarheit des Ausdrucks über dem seiner Kraft rangiert, unversehens einen grellen Glanz. In der lichtvollen Gegenwart des Jahrhunderts, die Gertrude Stein beschwört, meint man dann zuweilen Dinge zu vernehmen, die einer weit entfernten Vergangenheit angehören, weil man den Essay unwillkürlich am Maßstab avanciertester Modernität misst, die sie mit ihren frühen Arbeiten bereits zu Beginn des Jahrhunderts erreicht hatte. Literarisch bedeutet ihre Geschichte Picassos dagegen einen Rückschritt, wenngleich ihr dieser souverän komponierte Panegyrikos die Gelegenheit gibt, in der wahlverwandten Kunst des Malers ein Bild der eigenen zu verbergen.

Titelbild

Gertrude Stein: Picasso. Sämtliche Texte 1909-1938.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Roseli und Saskia Bontjes van Beek.
Arche Verlag, Hamburg 2003.
144 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3716023140

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