Ethnologischer Zettelkasten versus soziologische Theorie

Hans Peter Duerr kämpft mit "Tatsachen des Lebens" gegen Norbert Elias' "Prozeß der Zivilisation"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als gegen Ende der siebziger Jahre die Akzeptanz des orthodoxen Marxismus dahinschwand und auch die Attraktivität der Kritischen Theorie nachließ, kam die Stunde von Norbert Elias und seiner damals bereits vierzig Jahre alten Theorie des sozialen Wandels. Ihre Grundvoraussetzung ist, dass die Gesellschaft nicht als etwas Außerindividuelles und das Individuum nicht als etwas Außergesellschaftliches aufzufassen sei. Der Mensch habe keine in sich geschlossene Persönlichkeit, die als Gegenpol zur Gesellschaft begriffen werden könnte; vielmehr sei seine Psyche mit der Gesellschaft in einem unauflöslichen "Interdependenzgeflecht" verwoben. Dabei seien weder die Gesellschaft noch der Einzelmensch etwas Statisches; beide befänden sich in ständiger Entwicklung und bildeten im Laufe der Geschichte einander ablösende "Figurationen" - der Begriff "Figuration" ist ein Lieblingsbegriff von Elias und für seine Soziologie von zentraler Bedeutung.

Mehr als durch seine abstrakten Gedankengänge hat Elias dadurch gewirkt, dass er sie zur Prämisse sehr konkreter sozialhistorischer Studien machte, u. a. über den "Prozeß der Zivilisation" (1939) und über die "Höfische Gesellschaft" (1969). Besonders die Schrift über den Zivilisationsprozess hat ein nachhaltiges Echo gefunden. In ihr wird die These vertreten, dass sich seit Beginn der Neuzeit eine neue Form der Gesittung immer stärker durchsetzt und dabei die Veränderungen im Scham- und Peinlichkeitsempfinden eine maßgebliche Rolle spielen. Das "Natürliche", besonders einige körperliche Bedürfnisse und ihre Befriedigung, wird gesellschaftlich tabuisiert und als peinlich empfunden. Die dadurch bedingte Triebhemmung und -beherrschung hat eine Ummodellierung der Affektstruktur zur Folge, was in Wechselwirkung steht mit der Herausbildung neuer gesellschaftlicher Formationen, vor allem der höfischen Gesellschaft, und den Anfängen des neuzeitlichen Staats, dessen Voraussetzung der "zivilisierte", d. h. affektkontrollierte Umgang der Bürger miteinander ist.

Elias hat viele Anhänger gefunden, zu denen anfangs anscheinend auch Hans Peter Duerr gehörte, wenn auch wohl nicht ganz vorbehaltlos. Er plante einen Sammelband, in dem Vertreter verschiedener Fächer zur Zivilisationstheorie Stellung nehmen sollten, und bemühte sich, für dieses Unternehmen die Zustimmung von Elias zu erhalten. Dieser verweigerte sich. Daraufhin machte sich Duerr allein ans Werk. Es wurde eine fünf Bände umfassenden Kritik an Elias und mehr noch an dessen Schule. Dem nun vorliegenden letzten Band sind vorausgegangen: "Nacktheit und Scham" (1988), "Intimität" (1990), "Obszönität und Gewalt" (1993) und "Der erotische Leib" (1997). Bereits die Titel lassen ahnen, dass wir es eher mit Variationen über ein Thema zu tun haben als mit einer Vielfalt von Fragestellungen. Mit monomaner Besessenheit häuft Duerr ein kaum überschaubares Wissen auf, um den Nachweis zu liefern, dass die Vorstellung von einem neuzeitlichen und eurozentrischen Zivilisationsprozess, der durch Scham- und Peinlichkeitsempfindungen gelenkt werde, unhaltbar und eben nur ein Mythos sei.

"Naturalia non sunt turpia", diese Einstellung hat dem gängigen Vorurteil zufolge bei "einfachen" Völkern und auch im Mittelalter geherrscht, und selbst Elias scheint von diesem Vorurteil auszugehen. Doch dem ethnologisch geschulten Blick halten die Klischees vom kindlich naiven Wilden und vom bäuerlichen Menschen, die ein unbeschwertes Verhältnis zu Körper und Sexualität haben, nicht stand. Duerrs Beispielsammlung beweist eher das Gegenteil. Damit entfällt eine wichtige Voraussetzung der Zivilisationstheorie, geht sie doch von der Annahme aus, dass sich die zivilisierte Welt durch ihre skrupulöse Körperscham von anderen Kulturen abhebt. Erst recht irrt, wer glaubt, dass die Affektkontrolle in der modernen Welt größer sei als in den traditionellen Gesellschaften. Wenn man an die alte und zwischenzeitlich etwas obsolet gewordene soziologische Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft anknüpfen will, ließe sich sagen, dass die "naturhaft" gewachsenen Gemeinschaften ein weit größeres Maß an Selbstbeherrschung verlangen als neuzeitliche Gesellschaften, in denen der Kontakt zwischen den Individuen weniger eng ist. Es leuchtet ein, dass z. B. Restriktionen in einer Dorfgemeinschaft strenger sind als in einer Großstadt und es sich in dieser ungehemmter leben lässt.

Auch Elias' "Informalisierungsthese" wird von Duerr nicht akzeptiert. Dieser These zufolge ist das Nachlassen der Körperscham, das seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in der Öffentlichkeit zu beobachten ist, nur möglich, weil die Affektkontrolle inzwischen internalisiert worden sei und deswegen sinnliche Reize nicht ohne weiteres ein unzivilisiertes Verhalten provozierten. Anschauliches Beispiel: Heute darf eine Frau viel von ihrem Körper zeigen, weil die Gefahr, Opfer sexueller Belästigung oder gar Gewalt zu werden, gering ist; die "zivilisierten" Männer sind triebgehemmt genug, um nicht über sie herzufallen. Solche verinnerlichte Triebhemmung gibt es Duerr zufolge auch in den "einfachen" Gesellschaften. Wie wenig dagegen von der neuzeitlichen Internalisierung zivilisierten Verhaltens zu halten sei, verdeutlicht er am Beispiel der Kriegsgreuel des 20. Jahrhunderts vom Ersten Weltkrieg bis hin zum ersten Golfkrieg und der Verbrechen in den Konzentrationslagern, wobei sein Augenmerk den Sexualverbrechen gilt. Hier ließe sich allerdings einwenden, dass die Ausnahmesituationen von Krieg und Genozid nicht unbedingt Rückschlüsse auf den "zivilisierten" Alltag erlauben. Auch zeigt Duerr bei dem Bestreben, ältere und "traditionelle" Kulturen zu Ungunsten der Neuzeit aufzuwerten, ein befremdliches Verständnis für Hexenfolter und Marterpfahl, denen er im Unterschied zu jüngeren Grausamkeiten fast so etwas wie Sinnhaftigkeit zubilligt.

Doch mit gelegentlichen Einwänden ist dem Werk von Duerr nicht beizukommen. Vielmehr gilt es, den grundsätzlichen Unterschied zwischen ihm und Elias wahrzunehmen. Elias ist Soziologe mit Theoriebedürfnis, obschon er großen Wert darauf legt, seine Modellentwürfe mit empirisch belegbaren Tatsachen zu begründen und gerade auf der Verzahnung von Theorie und Empirie der Reiz seiner Soziologie beruht. Duerr ist faktualistischer Ethnologe, der an theoretischen Modellen uninteressiert ist und mit Hinweis auf die "Tatsachen des Lebens" seine Skepsis gegenüber jeder Theorie lebhaften Ausdruck verleiht; nicht nur Elias und seine Schule, auch Foucault gerät ins Visier. Die Polemik ist erfrischend und zuweilen amüsant; die Zivilisationstheorie dürfte erschüttert sein. Doch je länger man in Duerrs Werk liest, desto spürbarer wird der Wunsch nach einem abstrakten Leitfaden, der eine Orientierung in dem Labyrinth der vorwiegend sexualitätsbezogenen Fakten ermöglicht, die aus nahezu allen Kulturen und allen Zeiten eklektisch zusammengetragen und oft unverbunden aneinander gereiht werden. Der Inhalt eines gigantischen Zettelkastens wird zwischen Buchdeckel gepresst - oder arbeitet Duerr mit einer Datenbank? Welchen Stellenwert das Berichtete in den jeweiligen Kulturen hat, kann der Leser, der von den Eskimos zu den Ureinwohnern Feuerlands, von den australischen Aborigines zu schwedischen Bauern, von Japan nach Zentralafrika usw. versetzt wird, nicht einmal ansatzweise ermessen. Er muss sich begnügen, darüber zu staunen, was es alles gibt, und der Eindruck, es mit einer Sammlung sexualwissenschaftlicher Kuriosa zu tun zu haben, lässt sich nicht ganz vermeiden. Wegen obszöner Abbildungen hat der Rezensent der "Süddeutschen Zeitung" sogar empfohlen, das Buch nicht in der Öffentlichkeit zu lesen.

Elias' Eurozentrismus und seine Konzentration auf die Entwicklung weniger Jahrhunderte ermöglichen eine These, die auf Grund ihrer klaren Kontur auch dann fruchtbar bleibt, wenn sie falsch sein sollte. In der Einleitung zur "Höfischen Gesellschaft" schreibt er, dass es sich als recht nützlich erwiesen habe, "eine begrenztere empirische Arbeit mit grundsätzlichen theoretischen Überlegungen zusammen ins Geschirr zu spannen. Man kann die Einzelheiten der empirischen Untersuchung weit beziehungsreicher erfassen, wenn man ihre theoretische Bedeutung sieht, und man kann theoretische Gedankengänge besser assimilieren, wenn empirische Daten, auf die sie sich beziehen, zur Hand sind." Von solcher Balance ist bei Dürr nichts zu spüren. Er bietet nur empirische Daten. Seine Absicht ist, eine Theorie zu widerlegen, nicht, sie durch eine neue zu ersetzen. Aber die pauschale Auffassung, dass sich die Menschen in Bezug auf Sexualität mehr oder weniger immer gleich geblieben seien und die Genitalscham eine allgemein menschliche Konstante sei, lässt unbefriedigt und sollte durch einen anthropologischen Erklärungsversuch gestützt werden, selbst wenn dieser hypothetisch ausfallen müsste. Vielleicht hat Duerr mit seiner Materialsammlung einer These vorgearbeitet, die eine Brücke schlägt zwischen einer entscheidenden Phase in der Geschichte der Menschwerdung und dem biblischen Mythos vom Sündenfall.

Titelbild

Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
460 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3518280236

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Titelbild

Hans P. Duerr: Die Tatsachen des Lebens. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
1015 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3518413597

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