Emanzipierte Hausfrauen und der Kampf ums Dasein

Brigitte Fuchs untersucht die anthropologischen Diskurse über "Rasse", "Volk", Geschlecht in Österreich von 1850 bis 1960

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Kant im Jahre 1798 seine nahezu 350 Seiten starke "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" veröffentlichte, wandte er zur Erörterung der "Charakteristik des Geschlechts" und der des "Volkes" kaum mehr als jeweils zehn Seiten auf. Die "Charakteristik der Rasse" fertigte er gar auf einer einzigen ab. Hundert Jahre später stand die fragwürdige Trias zumindest in Österreich weit stärker im Zentrum anthropologischen Interesses, wie Brigitte Fuchs' Monographie "'Rasse', 'Volk', Geschlecht" zeigt, die ausweislich des Untertitels den anthropologischen Diskursen des Alpenlandes in den Jahren von 1850 bis 1960 gilt. Allerdings gibt diese Zeitspanne den Untersuchungszeitraum etwas verzerrt wieder, gilt doch ein Drittel des Bandes der Zeit vor 1850 während die Jahre nach 1945 in einem Epilog, der gerade mal sechs Seiten umfasst, kaum mehr als gestreift werden.

Der erste der drei etwa gleichstarken Hauptteile widmet sich der Genesis der Anthropologie und zeigt - weit über Österreich hinausreichend -, wie Welt und Kosmos während der "Epoche der Kolonisation" in den Kategorien einer "bürgerlich-patriarchalische[n] Moral" und "Doppelmoral" beschrieben wurden. Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht der "völkische Universalismus". Der dritte weist schließlich am Beispiel Österreichs auf, dass sich die "physische Anthropologie" insbesondere vom Ende des 19. bis in die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein, also "im Vorfeld des Nationalsozialismus", ganz auf die Erforschung sexueller und 'völkischer' Differenzen konzentriert und "konkrete bio-politische Maßnahmen zur 'Entmischung' der Bevölkerung" propagiert hat.

Während Fuchs Geschlecht als "symbolisch, sozial und historisch jeweils spezifisch konstruierte Kategorie" bestimmt, werden die beiden Begriffe "Volk" und "Rasse" stets in distanzierende Anführungszeichen gesetzt, so dass deutlich wird, dass es sich hierbei nicht um ihre Begrifflichkeit handelt. Gleichwohl sind die Begriffe, wie die Autorin zeigt, im anthropologischen Diskurs, zumindest soweit er auf die nationalsozialistische 'Rassen'politik vorweist, eng miteinander verwoben. Rekurrierte deren "Ideologie und Politik der 'Entmischung'" doch auf den "völkisch-universalistische[n]" Annahmen des anthropologischen Diskurses im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, die "'wilde' Frauen, Juden und 'gemischte Rassen' in eine "symbolische Beziehung" zueinander setzten und so deren Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung den Weg bereiteten."

Diesen Weg von den Anfängen der Anthropologie bis zu ihren nationalsozialistischen Vertretern zeichnet die Autorin weithin mit Akribie nach, indem sie zahlreiche anthropologische Schriften vorstellt, sie in ihren historischen Kontext stellt und schließlich theoretisch sowie politisch verortet. So wird nicht nur Otto Weiningers "berüchtigte[r] Bestseller" "Geschlecht und Charakter" unter die Lupe genommen - ein Werk, das die "dominante Haltung des 'deutschen Bildungsbürgertums'" widerspiegelt, sondern auch die eher unbekannten Arbeiten etwa der österreichischen Anthropologin Hella Schürer-Pöch oder des deutschen "Rassekundler[s]" Otto Reche. Nur gelegentlich vermisst man einen Autor oder einen Hinweis auf eine politisch-anthropologische Theorie-Konstellation. Eine kleine Lücke weißt etwa die Darstellung der Theorien des Sozialdarwinismus auf, den Fuchs vorrangig in seiner reaktionären Ausprägung vorführt, "allen voran" dessen Vertreter Ludwig Woltmann, Ludwig Plate, Otto Ammon. Zweifellos hatte die reaktionäre Ausformung des Sozialdarwinismus die Diskurshoheit. Friedrich Albert Lange, der mit einigem Recht als Begründer des Sozialdarwinismus gilt, hatte jedoch ganz anderes im Sinne als den sozialdarwinistischen Kampf ums Dasein zu propagieren. Vielmehr war ihm um nicht weniger zu tun, als um die "höhere geistige Bestimmung des Menschen" gerade im "Kampf gegen den Kampf ums Dasein". Dass der Sozialist und Vorvater des Marburger Neukantianismus unerwähnt bleibt, mag vielleicht darin begründet liegen, dass er nicht in Österreich sondern in Bonn und Duisburg, später in Tübingen und Marburg wirkte. Die Verknüpfungen zwischen "sozialdarwinistische[n] Gelehrte[n]" und Feministinnen, auf die bereits Harriet Anderson aufmerksam machte, wird hingegen auch von Fuchs beleuchtet und vielleicht in etwas zu harte Worte gefasst, wenn die Autorin in den Anschauungen der "Freidenkerin" Grete Meisel-Hess "emanzipatorisches Denken" mit "rassistischen Klassenhass" vereint sieht. Doch wurden in der österreichischen Frauenbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts auch ganz andere Stimmen laut, wie etwa diejenige Leopoldine Kulkas, die in Darwins "survival of the fitest" ein männliches Prinzip erkannte, in der von Pjotr Krapotkin 1902 dargelegten "Mutual Aid" hingegen ein weibliches.

Während Fuchs Kulka überhört, stellt sie die in reaktionären Kreisen ebenso wie unter Feministinnen weitverbreitete Mutterschaftsidealisierung ausführlich dar und überhäuft sie mit berechtigter, gelegentlich wohl aber überzogen formulierter Kritik. So bescheinigt sie etwa dem "Bund für Mutterschutz und Sexualreform" eine "'imperialistische' Form einer rassistischen Klassenideologie". Auch mag dahingestellt sein, ob die "radikalen" Feministinnen wirklich eine völkischere Gesinnung hatten als die gemäßigten um Helene Lange und Gertrud Bäumer. Immerhin ging Helene Stöcker, die langjährige Vorsitzende des radikalen "Bundes", nach der Machtergreifung der Nazis ins Exil. Bäumer tat das nicht und Lange war bereits 1930 verstorben. Sicher weist Fuchs jedoch zu Recht darauf hin, dass die "'Entdeckung' des 'Mutterrechts'" bereits im 19. Jahrhundert zur "wichtigsten 'historischen' Legitimationsstrategie" für einen Feminismus wurde, der die "patriarchalische Familie" nicht abschaffen sondern reformieren wollte.

Für die Zeit vor und um die Jahrhundertwende liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf den Geschlechterkonstruktionen und den Verknüpfung mit den seinerzeitigen Rassismen, wie sie insbesondere in der Konstruktion der europäischen Frau als Mutter und der "'wilden' Frau" als "rein sexuelles Wesen" zum Ausdruck kommen. Hier weist die Autorin anhand der sowohl Frauen als auch Juden und Kolonisierten von zahlreichen Autoren zugeschriebenen "'hybride' weibliche Sexualität" überzeugend nach, dass der "deutsch-völkische Diskurs über Weiblichkeit und 'Rasse'" nicht durch eine Theorie des "biologischen Determinismus" fundiert war, sondern auf einem "kulturalistischen Essentialismus" beruhte, der seinerseits auf der "Naturalisierung christlich-patriarchalischer Moral" basierte. Für den Untersuchungszeitraum nach 1918 verliert Fuchs den Geschlechterdiskurs etwas aus dem Blick und konzentriert ihr Interesse ganz auf rassistische und völkische Ideologien.

Insgesamt ein Buch, das man kaum unbelehrt aus der Hand legen wird. Die Freude hierüber bleibt allerdings nicht ungetrübt, wenn man sich die Zitierweise der Autorin genauer anschaut. So hätte man es etwa gerne gesehen, wenn Marx und Engels nach den in jeder Universitätsbibliothek vorhandenen "Marx-Engels-Werken" (MEW) zitiert worden wären und nicht nach völlig abgelegenen und nur schwer zugänglichen Ausgaben; hätte man doch in diesem Fall ohne größeren Zeitaufwand nachschlagen können, ob Engels wirklich schreibt, dass die "Zahl der unehelichen Kinder" des in Bergwerken arbeitenden Bevölkerungsanteils "unverhältnismäßig hoch groß" ist. Auch hätte man gerne gewusst, in welchem seiner Werke Johann Blumbach, der "Begründer der physischen Anthropologie und Rassenlehre", die "erste verbindliche Rassensystematik aus fünf 'Menschenrassen'" entwickelt. Aus dem Text geht das nicht hervor und in der Literaturliste ist Blumenbach nicht verzeichnet. Jean-Jacques Rousseaus geschlechtertheoretische Aussagen kennt die Autorin offenbar nur aus einem Buch von Sigrid Weigel. Und an anderer Stelle wird ein Autor des 18. Jahrhunderts zitiert, dessen Identität die Autorin den Lesenden verschweigt. Weder der Text, noch die dazugehörige Fußnote geben darüber Auskunft, um wen es sich handelt. Man erfährt gerade mal, dass hier ein Autor oder eine Autorin nach Claudia Honegger zitiert wird.

Titelbild

Brigitte Fuchs: "Rasse", "Volk", Geschlecht. Anthropologische Diskurse in Österreich 1850-1960.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
385 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3593372495

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