Ein intellektueller Betrug

Über Alan Sokals und Jean Bricmonts Angriffe auf die Postmoderne

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unvergessen ist sie in kulturellen Kreisen, die rasante Attacke auf das metaphorische Denken durch einen Naturwissenschaftler im Mai 1996. Damals druckte die renommierte kulturwissenschaftliche Zeitschrift "Social Text" einen Aufsatz des amerikanischen Physikers Alan Sokal. Er befaßte sich mit einer "Transformations-Hermeneutik der Quantengravitation" und versuchte zu demonstrieren, daß Relativitätstheorie und Quantenmechanik schon längst die Idee einer objektiven Außenwelt erschüttert hätten; in Wahrheit gehöre die Zukunft der radikalen Subjektivität wenn nicht überhaupt gleich der Chaostheorie. Ein offenbar dramatisches Eingeständnis aus dem Zentrum der härtesten Wissenschaft, die wir haben. Doch wenige Wochen später widerrief der Physiker: er habe eine Satire auf den postmodernen Diskurs verfaßt, habe den unsinnsträchtigen Relativismus der "cultural studies" metaphorisch auf die Spitze getrieben und dergestalt die Ahnungslosigkeit der verantwortlichen Herausgeber bewiesen. In Wahrheit sei er wie alle seine Kollegen davon überzeugt, daß es objektive Erkenntnis und objektive Naturgesetze gebe, und wer es nicht glaube, verrate die Wissenschaft und den gesunden Menschenverstand zusammen.

Vierzig Jahre nach C. P. Snows "Zwei-Kulturen-Lehre" gab es also wieder einen Eklat zum Thema. Tagungen wurden veranstaltet, Gegendarstellungen geschrieben, Verachtung geschürt. Doch Sokal gab sich nicht geschlagen. 1997 legte er zusammen mit dem belgischen Physiker Jean Bricmont ein umfängliches Buch auf französisch vor, in dem die Urheber der ganzen Misere benannt wurden. Fast die gesamte Creme der französischen Meisterdenker stand plötzlich am Pranger der wissenschaftlichen Redlichkeit: "Impostures intellectuelles" hieß das Buch, "intellektuelle Betrüger" von Bergson bis Roland Barthes, von Derrida bis Foucault und Bruno Latour, nicht zu vergessen Lacan-Anhängerinnen wie Julia Kristeva und Luce Irigary. Sokal und Bricmont hatten offenbar sämtliche Werke dieser Autoren in den Computer gescannt und nach physikalisch-mathematischen Metaphern durchsucht. Was sie fanden, war überwiegend Unsinn, Unverständnis und Anmaßung. Reden über Chaostherie, Kernspaltung, Unschärferelation und ähnliches. Schien die Metapher im Kontext überraschend neu, war sie doch sachlich falsch, war sie aber richtig, so nur banal.

Zweifellos, die rabiate Aufforderung der Naturwissenschaftler, die Geisteswissenschaften sollten sich gefälligst um ihre eigenen Dinge kümmern und nicht Chaostheorie und Quantenmechanik für vage Vermutungen über Texte bemühen, tut gut. Der autoritäre Ton ist wunderbar; endlich schafft jemand Ordnung. Natürlich fragt man sich nach einer Weile aber doch, was die Physiker wohl mit Goethe angestellt hätten. Hätten sie die Chemie-Metapher in Goethes "Wahlverwandtschaften" wohl geduldet? Hätten sie nicht Goethes "Farbenlehre" im Namen Newtons verdammt? Gewiß, und zwar um so mehr, als sich Goethe ja hier ausdrücklich als Wissenschaftler verstand. Ist aber so das Mißtrauen in die Attacke erst einmal geweckt, wächst es begierig. Mögen Sokal und Bricmont auch angesichts der amerikanischen cultural studies recht haben - aber treten sie nicht in Wahrheit die Flucht nach vorn an? Liegen die Verhältnisse nicht eigentlich genau umgekehrt? Nicht die dilettantischen Spielereien postmoderner Doktoranden und Professoren im Dornbusch der hard science halten uns geistig in Atem. Viel gravierender und weitaus häufiger sind doch die Übergriffe der Naturwissenschaften auf das sogenannte geistige Feld. Seit die Biologie zur neuen Leitwissenschaft wurde, vergeht kaum ein Monat ohne ein Buch, das sich anmaßt, einen oder mehrere oder am besten alle kulturellen Tatbestände zu erklären. Evolutionstheoretische Platitüden haben das Regiment übernommen - in ihrer Einfalt oft ein genaues Komplement zur komplizierten postmodernen Hermeneutik. Daß sich die zehn Gebote als biologisches Programm erweisen lassen, daß Altruismus angeboren, der Sinn für schöne Menschengestalt einprogrammiert, ja selbst das Bewußtsein als Vermögen zur Simulation moralischer Dilemmata von der Natur selbst vorgesehen sei - all dies kann heute unter Applaus behauptet werden, und es kann dies um so mehr, als dahinter die "Genomanie" des Jahrhunderts steht, die rasend angewachsene genetische Forschung. Die Zeiten, in denen ein Neurologe wie der alte Sir John Eccles an einen göttlichen Ursprung der Seele glaubte, sind vorüber - läßt man die amerikanischen Kreationisten einmal außer acht.

Die "feindliche Übernahme" geistiger Disziplinen wie Religion, Moral, Ästhetik durch die Naturwissenschaften, die mit der Aufklärung im schiefen Sinne begann, könnte sich heute am Ziel sehen. Um nur von Deutschland zu reden: Zwar hat der scheidende Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Wolfgang Frühwald, in seiner Amtszeit die Etablierung der Kulturwissenschaften leidenschaftlich betrieben - aber die letzten Sätze seiner Abschiedsrede lauteten: "In vielleicht zwanzig Jahren wird mit der ersten ortsfesten Weltraumstation auf dem Mond die extraterrestrische Epoche der Menschheit beginnen, welche alle Erfahrungen von Umwelt und Natur neu perspektiviert, weil nun gleichsam der sechste mit dem zweiten Schöpfungstag unmittelbar und brutal konfrontiert sein wird. So beginnt sich die Galaxie unserer Erfahrung und unserer Erinnerung in ein neues Zeitalter hineinzudrehen. Wir ahnen und erfahren alle schon neuen Beginn." Eine ungeheure Unterwerfung aus dem Munde eines bis dahin selbstbewußten Geisteswissenschaftlers. Im vorauseilenden Gehorsam baute er sein eigenes kulturwissenschaftliche Bühnenbild auch gleich selber wieder ab. Denn zum Nachfolger hat die DFG zwar keinen Physiker gewählt, wohl aber, mit Ernst-Ludwig Winnacker, einen Genetiker, also einen Biologen. Biologe ist auch der jetzige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl. So liegt also die Führung der beiden größten deutschen Wissenschaftsorganisationen in den Händen von Biologen. Biologie, erklärte Winnacker gleich nach Amtsantritt, sei die "big science" des kommenden Jahrtausends - und wer wollte ihm beim heutigen Stand der Dinge widersprechen.

Es ist die Frage, warum in solch einem Moment der Physiker Sokal das Primat der Naturwissenschaft gegenüber den Geisteswissenschaften so aggressiv anmelden mußte. Denn nicht nur gibt es ja weltweit schon längst einen unübersehbaren Primat der Naturwissenschaft. Es gibt auch, und viel wichtiger, ein offenes Bündnis von Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie. Kein Bündnis für Arbeit - eher im Gegenteil, ein Bündnis für Evolution, für Gattungsumbau. Der vielleicht aufmerksamste Beobachter der Szene, Claus Koch, hat die Bewegungen des "Biokapitals" jüngst bitter genau analysiert. Aus den USA steht uns eine Allianz von Genforschung, Pharmaindustrie und Reproduktionstechnik bevor, die ganz konkret Evolution betreibt. Noch ist es Evolution im Zeichen der Eugenik - also der Verbesserung des Menschen in Richtung auf ewige Gesundheit, ausreichende und haltbare Nahrung, blendende Schönheit und Intelligenz. Wer könnte etwas dagegen einwenden? Schließlich erzwingen Bevölkerungsexplosion und Rohstoff-Verschwendung ohnehin neue Methoden der Welternährung, und sie sind ohne wissenschaftlichen Fortschritt nicht zu haben. Daß wir allerdings eben dieser Bevölkerungsexplosion mit verfeinerten und verbesserten Reproduktionsmöglichkeiten zuarbeiten, die allen bisher unfruchtbaren, also auch homosexuellen Paaren Kinder ermöglichen sollen, grenzt an Wahnsinn. Und wenn nicht an Wahnsinn, so doch an die Phantasie der Tierzucht, die mit größtem Recht darauf besteht, nur die besten Zuchttiere zuzulassen, was in Menschensprache heißt: nur die wohlhabendsten.

Alan Sokal sagt zu diesen Fragen gar nichts. Er ist schließlich nicht Biologe, sondern Physiker. In Wahrheit hat er ein politisches Anliegen, will aufrechte Aufklärung betreiben. Die Kultur-Hermeneutik französischer Provinienz habe die einstmals politische Linke verhängnisvoll korrumpiert. Mit ihrem Kult des Sprachspiels, der weitreichenden Metaphorik und schillernden Mehrdeutigkeit habe sie die realen Ziele linker Aufklärung verraten. Der Mißachtung der objektiven Naturgesetze entspreche die Mißachtung objektiver gesellschaftlicher Mißstände; Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung, Elend seien schließlich höchst real. Hier müsse man kämpfen, statt um metaphorischen Lustgewinn zu buhlen. Schließlich bereichert jede Metapher das Hirn um eine neue Synapse - ein Zuwachs, der sich zwar physiologisch nicht - oder noch nicht oder vielleicht doch schon längst - nachweisen läßt, aber höchst erotisch wirken kann. Vielleicht sind hard scientists synaptisch gefeit? Jedenfalls möchte man unwillkürlich den Diagnostiker Alan Sokal, diesen puritanischen Reiter im Sattel der objektiven Naturgesetze, unter die Lupe nehmen. Denn all seine Kritik hätte er auch so oder mit ähnlichen Worten sagen und vortragen können. Sokal hat aber ein anderes Verfahren vorgezogen. Er hat mit dem Aufsatz von 1996 einen argumentativen Text abgeliefert und ihn später als blanke Ironie denunziert. Die Ironie ist aber eine rhetorische Figur, ein sogenannter Tropus und also ein - wenn auch feindlicher - Bruder der Metapher. Auch der Angriff des Buches über "Intellektuelle Betrügereien" von 1997 gilt genaugenommen der Metaphorik. Weil Sokal sich nicht mit den Inhalten der Autoren auseinandersetzen will oder kann, kritisiert er deren Metapherngebrauch. Sie benutzen, sagt er, physikalische, ja atomphysikalische Begriffe als Metaphern für ganz andere Sachverhalte, und sie benutzen sie unverstanden und unsinnig. Und weil sie schon in diesen Dingen so nachlässig verfahren, kann auch der Rest nur unsinnig sein. Auch das ein rhetorisches Argument, Gebrauch eines Tropus, einer sogenannten Synekdoche. Das heißt: von einer Teilbedeutung wird auf das Ganze geschlossen, von einem falschen Bild auf das gesamte Denken. Sokal bedient sich also auch hier wieder eben jener antiken Bausteine der postmodernen Hermeneutik, die er angreift. Aber er tut es nicht, um sich Leuten verständlich zu machen, die anders nicht hören wollen. Nein, Sokal möchte als eiserner Realist offenbar den Gebrauch der Metapher überhaupt denunzieren. Dabei kann kein metaphorisch verwendeter Sachverhalt Anspruch auf wissenschaftliche Genauigkeit erheben - sonst wäre er unbrauchbar. Jede Metapher braucht unscharfe Ränder. Man sagt etwa, das Herz sei gebrochen: wer die Splitter sehen will, ist ein Spielverderber. Kurz, hätte Sokal das Sprachspiel seiner Feinde aufnehmen wollen, er hätte auch ein ganz anderes Fazit ziehen können. Er hätte etwa interpretieren können: Eine falsch verstandene Physik leuchtet in diese postmodernen Diskurse hinein wie ein schiefes Bild aus einem ganz anderen Programm.

Die Idee des schiefen Bildes ist Sokal nicht ausdrücklich gekommen - aber er hat sie auf über 300 Seiten grell beleuchtet. Der postmoderne Sprachspieler hantiert nach dieser Lesart wie wild mit schiefen Bildern aus der hard science. Vielleicht hat er sie verwackelt. Vielleicht verfügt er, jedenfalls in diesem Bereich, über keine scharfen, nicht verwackelten Bilder, aber er möchte etwas aus diesem Reich in den Blick bekommen, er möchte, nach Art allen metaphorischen Begehrens, eine Brücke schlagen, über irgendeinen Fluß oder Abgrund. Wie kommt er aber dazu, inmitten eines historischen oder psychischen oder poetischen Sprachspiels, eine Brücke schlagen zu wollen ausgerechnet zu einer Disziplin absoluter Sprachlosigkeit wie der Physik? Was reizt ihn an anorganischer Berechnung? In der Psychoanalyse würde man wahrscheinlich von Perversion sprechen. Etwas Anorganisches, ein irgendwie unlebendiges, überhaupt nicht zum Vergleich taugendes Etwas wird in den Gedankengang gezogen und zum Vergleich gezwungen, geradezu zwanghaft beseelt. Erst die Kritik des Physikers stößt diese Art der Beseelung zurück, macht auf das perverse, schiefe, verwackelte daran aufmerksam.

Wenige Vorwürfe der Natur- an die Geisteswissenschaft lassen sich aber besser zurückgeben als dieser. Man braucht nur die Bilder zu untersuchen, welche die hard science ihrerseits unserem alltäglichen Bildhaushalt aufdrängt. Gemeint sind die Bilder aus dem Weltraum, die wir seit 1963 im Fernsehen sehen können. Seit Jahren mischen sich, bei gegebenem Anlaß, in die irdischen Bilder der Tagesschau plötzlich Bilder vom Mond, vom Menschen auf dem Mond, von Fahrten kleiner Roboter auf rötlichem Marsgestein, von Jupiterringen und anderen Planeten. Diese Bilder sind weder verwackelt noch schief, sondern inzwischen gestochen scharf. Sie trügen uns raffinierter. Man muß sich innerlich regelrecht anstrengen, um die Irrealität dieses physikalischen Ereignisses zu gewärtigen. Sind schon die Bilder ferner Gegenden beim Abendessen ein Mirakel, so sind sie immerhin im Bild der Reise, die man macht, irgendwie human plausibel. Die Angst und der Kitzel vor der Ferne, die da gezeigt wird, halten sich im Gleichgewicht von Realismus und metaphorischer Erfahrung. Man könnte, denkt das Sprachtier Mensch, vielleicht auch dorthin verreisen?

Bilder aus dem Weltraum übergangslos neben solche Bilder der Reiseerfahrung zu stellen, ist aber ein Anschlag auf unsere metaphorische Konstitution. Der Normalmensch hat für diesen Anblick keinen Vergleich: weder Metapher, noch Ironie, noch auch Synekdoche. Selbst das schnellste Flugzeug, das wir besteigen könnten, bliebe immer noch im irdischen Binnenraum - und das heißt: mit der Idee der Rückkehr, der Landung, und sei es im Absturz versehen. Und selbst das gräßlichste Bild eines solchen Absturzes wird von uns mit Angst konnotiert - also mit unserem wichtigsten Orientierungssinn. Die Bilder vom Mars aber sollen wir völlig angstfrei erleben, so will es das Bündnis für Evolution. Wer nicht Science Fiction-Filme über Raumfahrt konsumiert, kann von den Bildern der Wissenschaft nichts über das beängstigte Leben der Kreatur im Weltraum lernen. Der Anblick schwebender Astronauten in der Kapsel wirkt nur komisch. Selbst ein drohender Absturz wird von den verantwortlichen Instanzen beflissen angstfrei inszeniert. Man zeigt dem Zuschauer die Bodenstation, wo tausende von Leuten an der Unglücksverhinderung arbeiten. Könnte man mehr tun? Die Leute im All werden nicht alleingelassen. In Wahrheit sind sie in einer Weise allein, die kein biologisches Programm je gespeichert haben kann, es sei denn, man glaubt mit Erich von Däniken, daß die Menschen von Außerirdischen abstammen.

Die Planetenbilder im Fernsehen korrumpieren die Idee des Bildes aber noch viel weitgehender. Nicht nur liefern sie kein visuelles Äquivalent mehr zu einer Metapher; sie bilden geradezu ausdrücklich Fenster. Fenster erlauben nicht bloß Ausblicke, sondern auch Einblick. Durch das planetarische Bild schaut die hard science dem Konsumenten ins Auge. Denn auch die wichtigsten technischen Bedingungen dieser Bilder liegen ja längst außerhalb der Atmosphäre. Seit September 1998 kreisen Dutzende von neuen Satelliten in neuen Umlaufbahnen um die Erde, um weitere Hunderte von Sendern und Kommunikationskanälen zu eröffnen. Der Tatbestand einer "Noosphäre" ist inzwischen erfüllt, den der fromme Denker Teilhard de Chardin in den dreißiger Jahren erhoffte. Die Menschheit, schrieb er, sei von Gott für die Evolution des Geistes vorgesehen, und alle Materie verwandele sich mehr und mehr in Geist. Bedenkt man den Übergang vom Denken in Pferdestärken zum Denken in Informationseinheiten oder bits, so muß man Teilhard unbedingt recht geben. Die Erde schwebt heute in einem Netz von Stimmen und Bildern.

Mit den Planetenbildern wirbt die hard science für sich und für das bizarre NASA-Programm, wonach der Weltraum ab dem Jahre 2004 besiedelt und die Toten neu begraben werden sollen. Die Raumstation Alpha soll dann der hellste Stern am Himmel werden. Die unbewußten Antriebe in dieser Allianz von Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie, diesem unerkannten Bündnis für Evolution, sind noch nicht Thema der öffentlichen Debatte. Die Häufigkeit freilich, mit der das Foto des leuchtend blauen Erdballs in die Bilderwelt unsere visuellen Medien eindringt, sollte uns aufschrecken. Die kleine blaue Kugel taucht inzwischen als rollendes Emblem in Internetprogrammen auf, fliegt stündlich durch fast alle Nachrichten-Programme - am hübschesten bei Arte -, und führt in zahlreichen Werbefilmen ein romantisches Eigenleben. Längst kann man sie auch im Internet über einen eigens dafür gestellten Satelliten 24 Stunden lang betrachten, als lebte man schon selber längst im All.

Was in keinem menschlichen Gen vorhanden sein kann - oder etwa doch? - die außerweltliche Sicht auf unsere Erde, wird uns in einer beispiellosen Kampagne kulturell einprogrammiert. Warum? Wie in einem überdimensionalen Weltexperiment wird der Mensch daran gewöhnt, im Verbund mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen. Nicht nur verschwindet die Angst aus dem Bild-Erleben. Auch Geruch und Gehör, auch Gleichgewichts- und Tastsinn werden entbehrlich, ja störend. Der Astronaut Ulf Merbold hat es unlängst in einem Interview gesagt: es geht nur noch um die Schulung des visuellen Systems. "Ist man schließlich völlig visuell programmiert, kann man im Weltraum problemlos arbeiten."

In der Sprache der Tierschützer gibt es für diese Art kultureller Einpeitschung einen treffenden Ausdruck. Tiere, die man aus irgendwelchen Gründen aus der Gefangenschaft entlassen will, werden "ausgewildert". Man muß ihnen dabei helfen, denn sie haben die Grundregeln des Lebens in der Wildnis verlernt. Die Tierschützer tun dies mit viel Liebe - müssen aber natürlich das Scheitern ihres Experiments in Kauf nehmen. Nicht jedes Tier gewöhnt sich lebend an die neue Lage.

Eine imaginäre "Auswilderung" des Menschen gibt es seit der Erfindung des Kinos. Schon das Kino führt ja die Zweideutigkeit des Bildes als Fenster und Abbild mit sich. Und schon das Kino verwandelt den tief im Sessel motorisch ruhiggestellten Menschen in ein Fluggeschöpf - denn versteht man das Bild als Fenster, vor dem sich etwas bewegt, so wechselt der Zuschauer ja mit jedem Schnitt und jedem Akt der filmischen Montage die Aussicht und also die eigene Position im Raum. Wäre der Mensch nicht ein Sprachtier, und sähe er das Laufbild vor sich nicht immer zugleich als Abbild, wenn nicht Metapher - er müßte häufig seekrank werden. Schon hier also gibt es so etwas wie eine Austreibung der Angst vor einer bodenlosen Motorik, die ja mit der Konstitution eines zweibeinigen Säugetiers nicht zu vereinbaren wäre.

Die Entwicklung des Kinos verlief bekanntlich zunächst parallel zur Entwicklung des Flugzeugs. Das eine Teil der Unterhaltung, das andere zur harten Realität des Verkehrs und des Krieges gehörig. Die Linien laufen aber aufeinander zu. Heute, fast hundert Jahre später, weiß sich der flugsimulierende Computerfreak in Übereinstimmung mit den Astronauten der NASA. Der sprachliche Rohstoff eines imaginären Bewußtseins wird mehr und mehr aufgezehrt; die Idee soll Wirklichkeit werden und wird es offenbar auch, jedenfalls bei einer kleinen technischen Elite.

Das ideengeschichtliche Vorspiel dazu ist bekannt. Der Fanatismus der Nationalsozialisten, der die Menschheit in Tateinheit mit Mord in zwei ungleichberechtigte Rassen unterteilen wollte, hat eine erste, barbarische Umdeutung des Bündnisses für Eugenik ins Bündnis für Evolution hinterlassen. Unter Hitler hat die Allianz von Biologie, Technik und Ökonomie eine Mordgeschichte diktiert. Das muß und wird sich nicht wiederholen. Denn seit der Nachkriegszeit hat das "Auswildern" des Menschen im Fernsehen ganz andere Wege eingeschlagen, eben zunächst schwebend metaphorische. Das Fernsehen hat jener elitären Auswilderung zweiten Grades, wie sie die Weltraumfenster vermitteln und erzeugen sollen, eine populäre Auswilderung ersten Grades vorangestellt. Gemeint sind die Tierfilme, die sich mit wachsender Umweltbewußtheit auch wachsender Beliebtheit erfreuen. Meist sind es wunderbare Aufnahmen, lange und ruhige Einstellungen, Berichte von der Wohlgeordnetheit des natürlichen Lebens zwischen Jahreszeiten, Geburt und Tod, Hunger und Sättigung, Mutterliebe und Balzverhalten. Spielerisch wird der Zuschauer in die Wildnis zurückgebracht. Er lernt die Sonnenstände zu beurteilen, den Regen zu fürchten, dem Winter vorzusorgen, auf die Jagd zu gehen und zu töten.

Die Tötung im Tierfilm ist ein eigenes Kapitel. Meist findet sie schnell und scheinbar unbrutal statt. Zuweilen wird sie vom Film genüßlich in Zeitlupe zelebriert und damit ästhetisch überhöht. In jedem Fall ist die Tötung im Reich der Natur gerechtfertigt, und kein moralischer Akt. In den Filmbestsellern der letzten Jahre ließ sich das Eindringen dieser Immoralität der Tötungsakte bemerken. "Pulp Fiction", ein Film, in welchem den Protagonisten das Hirn nur so aus den Schädeln spritzt, den Zuschauern zum Gelächter, wurde 1996 zum besten Film des Jahres erklärt, von der internationalen Kritikerpresse. Eine Untersuchung über die Inspiration der Regisseure von Menschenfilmen durch den Tierfilm steht noch aus. Es dürfte auch schwer nachzuweisen sein, daß die wachsende Brutalität der Menschenfilme, im Verbund mit der immer härteren Pornographie, ursächlich mit den Ordnungsvorstellungen des Tierfilms zu tun hat. Unfreiwillig und unbewußt leistet aber gerade diese Kooperation dem heutigen Bündnis für Evolution beste Dienste. Wer im Fernsehen von einem Menschenfilm mit Mord und Totschlag und schneidend schnellen Schnitten zu einem ruhigen, schönen Tierfilm wechselt, atmet auf vor Erleichterung. Ihm ist zumute, als sei er endlich aus der Wildnis ins wohlgeordnete Zuhause gekommen. Die Auswilderung ersten Grades hat funktioniert - zunächst noch metaphorisch, denn noch begreifen wir das Bild im Fernsehen nicht nur als Fenster, sondern auch als Bild im Sinn von Abbild und damit von Sprache.

Nun will man auf unserer gegenwärtigen Gattungsbaustelle natürlich nicht den Menschen als Säugetier zu den Primaten zurückschicken. Eben jene sprachliche Verfassung, als deren größte Leistung man vielleicht das metaphorische Denken bezeichnen kann, hindert uns daran. Sie zwingt uns zur Flucht nach vorn. Die archaische Kommunikation der Säugetiere, hat der bekannte Anthropologe Gregory Bateson schon früh (1966) konstatiert, verläuft analog; und ein Erbe dieses analogen Denkens ist eben die Metapher, mit der wir ein Ding mit einem anderen vergleichen und derart beide schwebend ins Vertrauen ziehen. Aus diesem Hang befreit uns zunehmend der Prozeß der Digitalisierung. Ihm ist es zu verdanken oder zuzuschreiben, wenn inzwischen selbst Psychologen versuchen, die menschliche Seele mit "dem neutralen Blick eines außerirdischen Biologen" zu erfassen. So jedenfalls formulierte 1998 Steven Pinker, Autor eines wunderbaren Buches über die Sprache - doch inzwischen unterwegs, den menschlichen Geist als "einen durch natürliche Selektion geformten Computer" zu begreifen. Gewiß, zwischen der Auswilderung ersten Grades, der in die mütterliche Wildnis führt und ein Rückschritt wäre, und der Auswilderung zweiten Grades, die uns im Weltraum fliegen sehen will, liegt die Maschinisierung des Menschen. Sie wird oder hat schon das Bündnis für Eugenik in das verwandelt, was dieses Bündnis nicht ganz unbewußt, aber bisher nur von Laien analysiert, ohnehin anzustreben scheint: in ein Bündnis für für neue Unter- oder Nebenarten des Menschen. Offenbar hat es die gesamte Aufklärung nicht geschafft, uns von diesem biologischen Korsett zu befreien, welches uns fortgesetzt zwingt, Unter- oder Überarten zu erfinden, also immer wieder Untermenschen, von denen sich biologisch herrliche Übermenschen trennen könnten. Wenn die neuere Paläanthropologie recht damit hat, daß neue Arten in der Natur nur dann entstehen, wenn geologische Isolationen statthaben, dann ist der Sprung in den Weltraum der richtige Anlaß. Auf Dauer werden nicht dieselben Säugetiere in den Satelliten zum Mars fliegen können, die einst am Baum in Afrika Nüsse geknackt haben. Wer sich die zeitliche Koordinierung von Marsforschung und Human Genome Project betrachtet, könnte an höhere Planung glauben. Sicher gibt es längst katastrophische Szenarien, die unsere kleine blaue Kugel erschöpft verblassen sehen, so daß der Gattung nur die Flucht auf den rotleuchtenden Mars übrigbleibt. Wer aber wird ihn schließlich erreichen? Weder die Armen noch die Kranken, und wahrscheinlich vor allem nicht die Frauen. Nichts ist am Bündnis für Evolution augenfälliger als die Tendenz, das Geschlecht der Nachkommenschaft bestimmen zu wollen. Aber selbst wenn dem allen nicht so wäre, genügte der Blick auf die Anstrengungen der Roboterindustrie, den Menschen samt Hirn und Seele nachzubauen - ein motorischer Einspruch gegen die Geste des Klonens, die ja den Menschen gerade nicht fortschreiten, sondern auf der Stelle treten lassen will. Daß dieser erste Klonversuch einem Lamm gegolten hat, dem erzbiblischen Säugetier, ist eine evolutionäre Pointe, die nur versteht, wer metaphorisch denken, also menschlich sprechen kann.

Titelbild

Alan Sokal / Jean Bricmont: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen.
Verlag C.H.Beck, München 1999.
330 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3406452744

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