Abschied und Empfang

Jacques Derrida sagt Emmanuel Lévinas Adieu

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Friedhof von Pantin nahm Jacques Derrida Ende 1995 von seinem amicum philosophum Emanuel Lévinas Abschied, mit dessen Philosophie er sich seit 1964 befasst, dem Jahr, in dem seine Schrift "Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas" in der "Revue de métaphysik et de morale" erschien. Zusammen mit einem zweiten Text liegt die Grabrede nun in deutscher Übersetzung vor. In ihr beschreibt der Trauernde sein Leid als "kindlich" und "wehrlos". In "nackten Worten" will er über es sprechen und nur widerwillig greift er den wahrhaft "wirren und schrecklichen Ausdruck 'Trauerarbeit'" auf. Um so befremdlicher wirkt es, dass der kurze Text über ganze Passagen hinweg mehr einem Vortrag in einem Proseminar als einer Totenrede gleicht.

Beim zweiten Beitrag handelt es sich um die Eröffnungsrede einer Tagung zu Ehren Lévinas, die etwa ein Jahr nach seiner Grablegung stattfand. Derrida handelt hier von Lévinas Ethik des Anderen als prima philosophia. In einer für den Autor beinahe schon außergewöhnlichen Stringenz der Entwicklung des Gedankenganges legt er eine besondere Problematik der am Antlitz des Anderen orientierten Ethik Lévinas dar. Sie ergibt sich daraus, dass der Dritte, dessen Antlitz uns fremd, ja unbekannt bleibt, in die Ethik einbezogen werden soll und muss. Mit ihm, "dem Anderen des Anderen", kommt die Frage der Gerechtigkeit in den Blick, die Ethik mit Recht und Politik verbindet. Derrida schlägt, geführt von der Hand seines verstorbenen Lehrers und Freundes, einen weiten Bogen von Kants Schrift "Zum Ewigen Frieden" (1795) über die Lehre des Talmud, die Politik Israels, diejenige Frankreichs seinen Asylbewerbern gegenüber und wieder zurück zur geschichtsphilosophischen Schrift des Königsberger Transzendentalphilosophen, ohne dabei je die Höhe des philosophischen Diskurses zu verlassen und sich gänzlich in den Niederungen der Religion oder der Politik zu verlieren.

Bei alledem wird das ethische Verhältnis zum Anderen metaphorisch beschrieben als das eines Gastgebers zum Gast, der empfangen wird. Der Begriff des "Empfangs schlechthin" ist nun bei Lévinas nicht nur weiblich konnotiert. Es wird vielmehr sogar dezidiert betont, dass das "Empfangende an sich" das "weibliche Sein" sei. Natürlich springt einem sofort die klassische androzentrische Geschlechterbipolarität ins Auge, die dem 'Weiblichen' Passivität zuschreibt und dem 'Männlichen' Aktivität. Doch schlägt Derrida eine andere Lesart vor und glaubt sogar aus Lévinas Theorie "eine Art feministisches Manifest" herauslesen zu können. Dieses Unternehmen überzeugt jedoch wenig. Denn dass der Empfang als "anarchischer Ursprung" der Ethik nicht der "empirischen Gegenwart eines Menschen 'weiblichen Geschlechts'" zuzuschlagen sei, sondern der "Dimension des Weiblichen" verschlägt hierfür wenig. Letztlich aber mündet bei Lévinas die ethische Beziehung zum Anderen im Zeichen der Gastlichkeit - auch für Derrida selbst überraschend - in der aktiven "väterlichen Fruchtbarkeit" und der exklusiven Vater-Sohn-Beziehung. Auch hieraus dürfte sich für Feminismus und gender-Theorie wenig gewinnen lassen.

Titelbild

Jacques Derrida: Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas. Aus d.Französischen v. Reinold Werner.
Carl Hanser Verlag, München 1999.
176 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3446196498

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