Der Pudding. Die Wand. Der Nagel.

Keine Frankfurter Postdramaturgie

Von Tanja PostpischilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tanja Postpischil

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Große Theaterabende begeistern mehr als ein Versprechen, denn als seine Einlösung." (Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater)

Gleiches, könnte man meinen, charakterisiert wohl auch manche großen Bücher, wissenschaftliche im besonderen. So hat jüngst der Frankfurter Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann eine voluminöse Abhandlung über Postdramatisches Theater vorgelegt, mit der er sich einer bedeutenden Spielart des zeitgenössischen Theaters nähert. Mit seinem Buch ergänzt der Autor den theaterwissenschaftlichen Diskurs um eine bislang nicht vorhandene umfassende Darstellung dieser Theaterpraxis.

Postdramatisch, ein von Lehmann treffend und reflektiert gewählter Terminus, verdeutlicht einerseits, indem er auf die literarische Gattung verweist, die fortbestehende Kohärenz von Theater und Text, signalisiert den irgend gearteten Bezug des Theaters zum "Dramatischen"; andererseits fasst das beliebte Präfix post das Novum, das dieses Theater impliziert. - "Theater nach dem Drama" beschreibt ein Theater, welches das sprachliche Zeichen nicht als das dominierende betrachtet und insofern die anderen Theaterzeichen von der Überdetermination durch das Sprachliche emanzipiert. Die Benennung ist im Vergleich zum Begriff postmodern nicht als epochal gedacht, sondern verweist generell auf ein Theater, das durch einen veränderten Modus des Gebrauchs theatraler Zeichen charakterisiert ist.

Mit der erklärten Absicht, eine ästhetische Logik des neuen Theaters zu entfalten, hat der Autor sein Ziel wahrlich nicht unbescheiden formuliert, wenngleich er auch einräumt, ähnlich Lessing "die" Dramaturgie eines postdramatischen Theaters entwickeln zu wollen, sei sicher undenkbar. Lehmanns Auffassung der Theaterwissenschaft bevorzugt im Gegensatz zum konzeptionellen theoretischen Diskurs die Reflexion von Theatererfahrung.

Als Resultat dieser Einstellung bietet das Buch eine Auswahl herausragender Beispiele der internationalen postdramatischen Theaterpraxis von den 60er Jahren bis heute. Es fasst die heterogene Vielfalt dieses Sektors und schafft auch dem weniger fachkundigen Leser einen Einblick in die Spezifizität der Regiearbeit von Robert Wilson, Jan Fabre, John Jesurun, Heiner Müller, Einar Schleef, Jan Lauwers und anderen.

Was der Rezipient des Buches allerdings nicht erwarten darf, ist die Auseinandersetzung mit Texten postdramatischer Autoren. Diese werden zwar am Rande wahrgenommen, jedoch kaum bis gar nicht behandelt.

Hier spart Lehmann einen bedeutenden Aspekt fast gänzlich aus, der innerhalb einer Studie mit dem Anspruch, postdramatisches Theater zu verhandeln, seine Berücksichtigung finden sollte. So stellen doch eben auch die postdramatischen Texte beispielsweise Heiner Müllers oder Elfriede Jelineks neue Anforderungen an das Theater, implizieren oftmals eine neue Form theatraler Umsetzung, ja bedingen geradezu eine Darstellung, die jenseits der Strukturen des dramatischen Theaters (im postdramatischen Theater) liegt.

Lehmann betrachtet das postdramatische Theater aus der Perspektive der Theaterentwicklung des 20. Jahrhunderts. So sind der Herausarbeitung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zu Dada, Surrealismus, Theater des Absurden, der Verwandtschaft zu Happening und Performance Art etc. meist ein theatergeschichtlicher Abriss sowie Spezifika der jeweiligen Spielarten vorangestellt, was dem theaterwissenschaftlichen Laien sicher als Verständnishilfe dient, ansonsten jedoch in der Ausführlichkeit eher entbehrlich wirkt.

Überdies stellt der Autor eine Vielzahl von Bezügen zu außertheatralen Systemen wie beispielsweise der bildenden Kunst her, die nicht zuletzt auch immer wieder zur Abgrenzung gegen das dramatische Theater dienen. Die Fülle der Aspekte, Bezüge und Beispiele, die Lehmann heranzieht, bringt es mit sich, dass er über die Deskription selten hinauskommt.

Ohne die Evidenz der von Lehmann betonten Relationen insgesamt in Abrede stellen zu wollen, da sie für ein komplexes Verständnis relevant sind, wirkt es sich als störend aus, dass die Merkmale des postdramatischen Theaters nurmehr verstreut in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auftauchen; Lehmann zeigt seinen Lesern viele Bäume, ob sich diese freilich zu einem Wald gestalten, bleibt letztlich fraglich.

Zwar ist die strukturelle Anlage des Buches in seiner detaillierten Feingliederung (kein Unterkapitel fasst mehr als 7 Seiten) begrüßenswert, doch geht sie mit häufigen Wiederholungen von Einzelaspekten einher. Die im Abschnitt "Körperlichkeit" diskutierten Aspekte werden beispielsweise gut 200 Seiten später in dem gesonderten Kapitel "Körper" erweitert und modifiziert.

Die Gliederung des Buches folgt jenen theatralen Aspekten, mittels derer Lehmann Charakteristika des postdramatischen Theaters herausarbeitet: betrachtet werden beispielsweise die Raum- und Zeitästhetik, die Körperbilder und der Umgang mit den neuen Medien. Der Autor liefert dabei immer wieder aufschlussreiche und reflektierte Überlegungen, in die er eine Vielzahl wissenschaftlicher Ansätze von Aristoteles über Hegel bis Lyotard einbezieht.

Lehmann entfaltet ein Panorama der ästhetischen Mittel, indem er die Besonderheiten des postdramatischen Zeichengebrauches erläuternd diskutiert. Wo der Rezipient die Interpretation der theatralen Aspekte als Desiderat empfindet, flüchtet sich der Autor indes zu oft in die bloße Materialität der Zeichen.

Der Klappentext des Buches verspricht vollmundig, Lehmann habe durch seine Beschreibungen zugleich eine Theorie des neuen Theaters geschaffen. Das ist ein Irrtum.

Scheinbar bescheidener formuliert Lehmann im Buch selbst, es solle lediglich der begrifflichen Erfassung und Verbalisierung theatraler Erfahrung dienen, um so die Wahrnehmbarkeit und Diskussion des oft als diffizil empfundenen und mit Rezeptionsschwierigkeiten behafteten Theaters der Gegenwart zu fördern. Bei diesem Versuch, ein Instrumentarium der Wahrnehmung zu formulieren, sollen in Auseinandersetzung mit dem Gebrauch der Theaterzeichen Beschreibungskriterien und Kategorien als eine Art Sehanleitung gewonnen werden.

Hier formuliert der Autor einen Anspruch, den er letzten Endes nur durch eine Theorie des postdramatischen Theaters einlösen könnte. Denn Aufgabe der Theorie, so Lehmann, sei es, das Gewordene auf Begriffe zu bringen. Derzeit gibt es aber, vermutet er, vielleicht nur stotternde Antworten.

So tut sich Lehmann mit den angestrebten Beschreibungskriterien sichtlich schwer. Seine überlegte Begriffsbildung des Terminus postdramatisch findet an den Stellen, an denen er auf die Grundkonstituenten des Dramas stößt, leider keine Entsprechung. Die hiermit verbundenen Schwierigkeiten werden nicht mit ausreichender Konsequenz problematisiert; konstitutive Merkmale des traditionellen Dramas (Figur, Handlung, Dialog) werden heuristisch durch Findungen umgangen:

Anstelle des Terminus Dialog z.B. setzt der Autor Begriffe wie "wettreden", Polylog (Kristeva) oder aber eine Charakterisierung ex negativo (die nach Lehmann gerade vermieden werden soll) als Zersetzung des Dialoges. Sogar der Terminus Figur wird mancherorts verwendet, bisweilen durch Gestalten ersetzt oder mit dem durch Schlemmer geprägten Begriff der Figurinen umgangen. Schauspieler avancieren - im Einzelfall treffend - zu Akteuren, Performern oder "entpsychologisierten Sprechmaschinen". Handlung wird zu inneren und äußeren Zuständen oder reflektiert beschrieben als ein Theater "jenseits von Handlung", das sich als Zeremonie (Kantor), Theater der Stimme im Raum (Grüber) oder als Landschaft (Wilson) darstellt.

Insgesamt scheint dieser tentative Begriffspluralismus wenig operabel, bieten die von Lehmann verwendeten Begrifflichkeiten kein konsistentes Instrumentarium. Auch kann es störend wirken, daß die Begriffe selten in Abgrenzung zueinander und zu den zu ersetzenden Termini diskutiert werden. Die Frage dagegen, ob es überhaupt als möglich oder sinnvoll zu erachten wäre, vereinheitlichende Begriffe für die disparaten Phänomene des postdramatischen Theaters zu definieren, läßt die Aporie des Wunsches nach einer Theorie dieses Theaters erahnen.

Dies ist aber eben auch nicht die primäre Intention des Autors; weder als eine Theorie des postdramatischen Theaters, noch als ein Versuch dessen versteht sich das Buch; Lehmann wählt die bescheidenste der möglichen Varianten, er benutzt den Titel Postdramatisches Theater und löst dies mit legitimer Deskription ein. Seine Ansätze, Überlegungen und Ausführungen, die leider zu oft an der Oberfläche bleiben, ziehen gewiss eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen nach sich, die von Lehmann ausgesparte Aspekte und die analytische Zuspitzung erarbeiten werden.

So steht, wenn es sie denn geben wird, eine Theorie des postdramatischen Theaters noch aus; sie wird aber mit Sicherheit auf dieses Buch zurückgreifen müssen.

Titelbild

Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater.
Verlag der Autoren, Frankfurt 1999.
505 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3886612090

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