Von dem, der die Mägen traf

Dem amerikanischen Schriftsteller Upton Sinclair zum 125. Geburtstag

Von Fabienne QuennetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabienne Quennet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie kein anderer Schriftsteller konnte der am 20. September 1878 in Baltimore geborene Upton Sinclair von sich behaupten, immer nur vom Schreiben gelebt haben zu können. Schon als junger Mann begann er Geschichten und Groschenromane für Jugendliche zu verfassen, um sich so sein Studium zu finanzieren. Als er 10 Jahre alt war, zog sein alkoholkranker Vater mit der Familie nach New York. Kurz nachdem Upton Sinclair mit 14 Jahren am New York City College angefangen hatte zu studieren, veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte. Mit 17 Jahren konnte er von zu Hause ausziehen, seine verarmten Eltern finanziell unterstützen und sein Studium an der Columbia University aus eigenen Mitteln fortsetzen.

Zeitweise lebte Upton Sinclair bei seinen reichen Großeltern, und der Kontrast zwischen Armut und Reichtum, dem er als Jugendlicher ausgesetzt war, sensibilisierte ihn so, dass er politisch aktiv und Sozialist wurde. Schon um 1900 schloss er sich der sozialistischen Bewegung Amerikas an (1904 wurde er Mitglied der "Socialist Party of America", und bis auf eine kurze Unterbrechung während des ersten Weltkriegs arbeitete er bis in seine 60er Jahre aktiv in der Partei mit), deren Idealen er seinem Leben lang treu blieb und die er in zahlreichen Artikeln, Aufsätzen und fiktionalen Werken verbreitete. Beeinflusst auch durch die Arbeiten seiner Kollegen, den Naturalisten Jack London und Frank Norris, gründete er dann mit London, Clarence Darrow und Florence Kelley im September 1905 die "Intercollegiate Socialist Society".

Seinen ersten Roman "Springtime and Harvest" hatte er bereits 1901 veröffentlicht, und sein fünfter, "A Captain of Industry" erschien im Jahr 1906. Doch diese ersten Romanversuche verkauften sich schlecht. Sichtbar wird hier aber schon, dass Upton Sinclair zu den Schnellschreibern gehörte und fast nie mehr als ein Jahr für einen Roman benötigte, selbst wenn dieser mehr als 500 Seiten hatte. Im Laufe seines Lebens verfasste Sinclair mehr als 90 Bücher, von denen sein wohl bekanntester Roman "The Jungle", in der deutschen Übersetzung als "Der Sumpf" oder "Der Dschungel" bekannt ist. Im Jahr 1904 beauftragte ihn der Verleger der radikalen sozialistischen Wochenzeitschrift "Appeal to Reason" einen Roman über die Arbeiter in den Chicagoer Schlachthöfen, zumeist europäische Einwanderer, zu schreiben. Upton Sinclair bekam 500 Dollar und verbrachte sieben Wochen lang mit den Arbeitern der Schlachthöfe, deren Geschichte und Geschichten er sich abends anhörte. Tagsüber wanderte er über die Höfe und betrieb weitere Nachforschungen durch Gespräche mit Anwälten, Polizisten, Politikern und Immobilienmaklern. Immer nur ein Beobachter bleibend, schaffte er es dennoch, in seinem Roman die Atmosphäre der Schlachthöfe und die Lebensumstände der "Arbeitersklaven" von Chicago einzufangen und unbarmherzig wiederzugeben. 1905 erschien der Roman als Fortsetzung in "Appeal to Reason", was ihm zu einer gewissen Popularität verhalf, allerdings lehnten es sechs Verlage aufgrund seiner ungeschönten Beschreibungen des Schreckens und der Brutalität des Lebens in den Schlachhöfen ab, seinen Romasn als Buch zu verlegen. Erst nachdem Sinclair es im Eigenverlag heraus brachte und 972 Kopien verkauft hatte, zeigte sich Doubleday interessiert. 1906 erschien "The Jungle" in gebundener Form und verkaufte sich quasi sofort 150.000 Mal.

Der sensationelle Erfolg des den Arbeitern Amerikas gewidmeten Romans erklärt sich u. a. durch seine schonungslose Beschreibung von den Zuständen in Chicago und den menschlichen Tragödien, die seine Charaktere erleben. Als überzeugter Sozialist hatte Sinclair größeres Interesse an den Arbeitern als an der Viehwirtschaft und ihren Mißständen: "Ich zielte auf die Herzen der Menschen, und zufällig traf ich ihre Mägen". Der Einfluss seines Buches ging so weit, dass der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt und der Kongress 1906 zwei Gesetzte, den "Meat Inspection Act" und den "Pure Food and Drug Act", verabschiedeten und auch Deutschland den Fleischimport aus den USA durch erhöhte Zölle einschränkte.

In 17 Sprachen übersetzt, zählt er zu den wichtigsten Beispielen eines Romans im "Muckraker"-Stil, einem Stil, dem sich die Journalisten der Jahrhundertwende bedienten, um politische und soziale Missstände anzuprangern und dessen Bezeichnung auf eine Figur in John Bunyans "The Pilgrim's Progress" (verfasst zwischen 1661-1672) zurückgeht. Dieser investigative Journalismus wurde durch Benjamin Flower, Ida Tarbell und Lincoln Steffens vertreten und beeinflusste Upton Sinclair stark. Aber auch "The Jungle" mit seinen politischen Konsequenzen befruchtete wiederum diese Art des Journalismus, und es war Präsident Theodore Roosevelt, der diesen Stil herablassend als "muckraking" bezeichnete.

Upton Sinclair verstand sich immer als politischer Schriftsteller, der hoffte, mit seinen Büchern zu tiefgreifenden politisch-gesellschaftlichen Veränderungen beitragen zu können. Die literarische Ästhetik hat er seinen politischen Überzeugungen oft geopfert; man kann auch sagen ,sein politischer Idealismus hat den Naturalismus verdrängt, wie in "The Jungle", das ganz im Sinne eines Pamphlets die Leser aufrütteln und zum Handeln aufrufen will. Diese didaktische Ausrichtung wird oft als größte Schwäche des Romans verstanden. Der Protagonist des Romans, der litauische Immigrant und Ich-Erzähler Jurgis Rudkus, wird durch das kapitalistische System in den finanziellen, moralischen und physischen Ruin getrieben: auf der Strecke bleibt der amerikanische Traum, der sich hier zum ersten Mal in der amerikanischen Literatur in einer solchen Vehemenz als amerikanischer Alptraum präsentiert. Das Bild des Dschungels verdeutlicht den Kampf ums Überleben, den "survival of the fittest", dem die Menschen im Moloch der Großstadt ausgesetzt sind. Beschreibungen von Grausamkeiten wie denen eines Säuglings, der in einer dreckigen Pfütze ertrinkt, einem Arbeiter, der in ein Fettfass fällt und einem kleinen Jungen, der von Ratten gegessen wird, dramatisieren das ganze menschliche Leid im Überlebenskampf der Arbeiter des frühen 20. Jahrhunderts. Wie die Tiere, die dort zur Schlachtbank geführt werden, sind die Arbeiter der Schlachthöfe ihrem Schicksal gnadenlos ausgeliefert. Sinclair jedoch bietet eine Alternative an, die vom marxistischen Modell der Geschichte geprägt ist und seinem Protagonisten Jurgis zu einem überzeugten und optimistischen Sozialisten macht, der die Hoffnung in sich trägt, dass die Arbeiterklasse die Macht übernehmen werde. Der am Ende stehende revolutionäre Aufruf zu den Waffen kulminiert im proletarischen Slogan: "Chicago wird unser sein! Die ganze Welt wird unser sein!".

Sinclair stellt seine politische Vision über die Geschichte selbst, die Entwicklung der Charaktere. Die Wahrhaftigkeit seiner Geschichte wird geopfert, und dies trägt nicht zuletzt zu dem oft kritisierten Schluss bei, der schnell zusammengeschrieben voller Polemik und Sentimentalität den Sozialismus feiert und zu politischem und gewaltsamen Handeln aufruft. Sinclair selbst fand ihn problematisch und unpassend und führte ihn auf den Mangel an Geld zurück: "Think of my having to ruin "The Jungle" with an ending so pitifully inadequate, because we were actually without money for food". Trotz seiner Schwächen bleibt "The Jungle" einer der wichtigsten amerikanischen Dokumentarromane - er wurde in circa sechzig Übersetzungen verbreitet.

Sein übriges Werk, Romane wie "The Metropolis" (1908) und "The Moneychangers" (1908), war wiederum kommerziell erfolglos, erst seine Anthologie des sozialen Protestes, "A Cry for Justice" (1915), brachte ihm erneute Anerkennung. Die Debatte über den Kriegseintritt der USA in den ersten Weltkrieg spaltete die sozialistische Partei Amerikas; sie führte dazu, dass Sinclair, der sich für den Eintritt aussprach und mit Max Eastman und John Reed eine hitzige Diskussion in der radikalen Zeitschrift "The Masses" austrug, die Partei verließ und erst in den frühen 20er Jahren wieder in sie eintrat. Zu den politischen Büchern, die in dieser Zeit entstanden, gehörten "King Coal" (1917) und "Boston" (1928), letzteres ein Roman über den Sacco-und-Vanzetti-Fall; beides sind Werke, die das erlebte Unrecht der sozial schwachen Klassen thematisieren und auf historischem Material fußen. Ein Jahr früher erschien in der Zeitung "The Nation" ein Artikel, in dem Sinclair seine Haltung zum Kriegseintritt als falsch revidierte. Zweimal versuchte er in den folgenden Jahren Gouverneur von Kalifornien zu werden, beide Male aber scheiterte er. Den Pulitzer Preis gewann er 1942 für seinen Anti-Nazi Roman "Dragon's Teeth", Teil einer Romanserie, der sogenannten "Lanny-Budd-Serie", die 1940 mit "World's End" begann und sich in insgesamt elf Büchern der politischen Situation Amerikas und Europas von 1913 bis 1949 in journalistischer und enzyklopädischer Weise widmete; selbst Thomas Mann soll die Serie geschätzt haben.

Ironischerweise hat Sir Arthur Doyle den Autor Upton Sinclair einen "Zola of America" genannt, obwohl kein amerikanischer Realist und Naturalist Zola mehr ablehnte als Sinclair. Nach einem sechswöchigem Französischkurs hatte Sinclair behauptet, französische Klassiker wie Racine, Moliére, Rousseau, Voltaire, Balzac, Zola und andere im Original lesen zu können. Zola warf er vor, die "schwarze Magie des modernen Babylon" zu verkörpern. Sinclairs puritanische Erziehung und sein lustfeindliches Naturell trugen nicht nur dazu bei, Zola moralisch abzulehnen, sondern auch seinen politisch gleichgesinnten Schriftstellerkollegen Jack London zu kritisieren. Während dieser Sinclairs "The Jungle" mit viel Lob bedachte und ihm so zu internationalem Ruhm verhalf, warf ihm Sinclair lasterhaftes Leben vor, da London dem Rauchen, dem Trinken, den Frauen, und dem Geldverdienen verfallen war. In vielerei Hinsicht fanden Sinclairs puritanische Ängste vor Schönheit, Freude und Liebe Ausdruck in seiner Ablehnung Jack Londons, immer aber auch in seinen eigenen Werken.

Als Upton Sinclair im November 1968 starb, war er neunzig Jahre alt und nicht nur ein vergessener Sozialist, sondern auch ein vom literarischen Establishment fast vergessener Autor. Da jegliche literarische Kategorisierung Sinclairs bisher fehlgeschlagen ist, bleibt er ein literaturwissenschaftliches Problemfall: er ist weder nur Symbolist oder Modernist, nur Journalist oder Poet, der weniger interessiert wäre an den Fragen des menschlichen Bewusstseins als an Gesellschaft, Politik und mehr. Am Anfang seiner Karriere galt er noch als Mitglied der Gruppe naturalistischer Autoren um Jack London, Frank Norris und Theodore Dreiser, die großen Einfluss auf nachfolgende Generationen hatte. 1927 nannte ihn "The Nation" den Fielding und Dickens des 20. Jahrhunderts. Nach der "Lanny-Budd-Serie" sprach zwar keiner mehr von Upton Sinclairs literarischen Meriten, doch wurde er augenscheinlich immer noch gelesen. Leon Harris' 1975 erschienene Biographie zeigt, wie viele damalige Schriftsteller von ihm in verschiedenen Weisen beeinflusst waren, u. a. Allen Ginsberg, Walter Cronkite und Norman Mailer. In Deutschland holte ihn insbesondere Dieter Herms aus der Versenkung und zeichnete in seiner 1978 erschienen Monographie "Upton Sinclair - amerikanischer Radikaler. Eine Einführung in Leben und Werk" und seiner 1986 veröffentlichten Sammlung von Aufsätzen zu Sinclair ein widersprüchliches Bild von dem Autor, der doch eine wichtige Stimme Amerikas war und ist.

Titelbild

Upton Sinclair: Der Dschungel. Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2000.
480 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3499154919

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