Zu knien in angefachter Besingung

Friederike Mayröckers Gedichtband "Mein Arbeitstirol"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Teil der Bibel bleibt, wieviel Wasser auch inzwischen den Jordan oder die Donau hinabgeflossen, doch für Gläubige wie für Nichtgläubige eine poetische Schatzkammer, in der beinahe für alle Gefühls- und Lebenslagen Antwort zu finden ist: der Psalter. Reich, schön, geheimnisvoll, tröstlich, befeuernd sind diese Liedverse, welche oft mit einer Gebrauchsanweisung etwa der Art versehen wurden: "Ein Gebet für den Elenden, wenn er verzagt ist und seine Klage vor dem Herrn ausschüttet" So beginnt die mächtige Klagerede des 102. Psalms.

Ähnlich eindrucksvolle Klagelieder waren von Friederike Mayröcker nach dem Tod Ernst Jandls zu erwarten, doch ihr neuer Gedichtband "Mein Arbeitstirol" überrascht mit einer dem Psalter ähnlichen Themenfülle, teilt immer wieder dessen hoch gestimmten, liedhaften Ton, ob im jauchzenden Lob, in ernster Bilanz oder in schwärmenden Liebesbezeugungen an Mensch und Natur. Einzigartig verbindet die Dichterin diesen fast seherischen, gottgeschlagenen Gestus mit den Mitteln ihrer höchst artistischen Lyrik. Man könnte sagen, Tradition und Moderne fallen sich bei ihr produktiv ins Wort. Das ist keine neue Entwicklung, hat in "Mein Arbeitstirol" allerdings einen so hohen Grad an Perfektion und Souveränität erreicht, dass selbst schwere Verse schweben.

Die Gedichte der Sammlung entstanden - fast als ein lyrisches Tagebuch - in den Jahren 1996 bis 2001, etwas über die Hälfte vor, die anderen nach dem Tod von Ernst Jandl. Ihm, dem "HAND- und HERZGEFÄHRTEN", widmet Mayröcker ein gutes Dutzend Gedichte; viele mehr noch sprechen mit ihm oder von ihm in bezwingender Weise. Ihre Liebe lebt in den Versen, die weit über das Persönliche und über den Tod hinaus gehen. Schon im "Requiem für Ernst Jandl" - aus dem zwei Gedichte in die Sammlung aufgenommen wurden - schrieb Mayröcker: "aber vielleicht ist es so, daß man weiter mit diesem HERZ- und LIEBESGEFÄHRTEN sprechen kann nämlich weiter Gespräche führen kann und vermutlich Antworten erwarten darf." Tatsächlich setzt sie den innigen Austausch, wenngleich nicht ungebrochen, über den Frühsommer 2000 hinaus fort, und zwar mit Intensität, mit Vehemenz.

Vielleicht erstaunt im Band am meisten die kraftvolle Weise, wie Mayröcker Wörter und Worte schleudert, manchmal scheinbar maßlos, gleichwohl stets gemessen mit der Elle "gelungen oder nicht", bringt sie doch, wie sie schreibt, der Gedanke an ein missratenes Gedicht um den Schlaf. Der vielerfahrenen, vielerduldenden Dichterin stehen nicht nur höchste Sensibilität und reiche Kenntnisse, ihr stehen Passion und Pathos zu Gebote. Abgesehen von der Meisterschaft ist ihr Dichten von abgeklärter, heiter-stiller Alterslyrik weit entfernt:

in den Mund diesen Tag in den Mund (nehmen) auf die

Zunge

auf der Zunge zergehen lassen diesen Tag : der

Geschmack bitter. Diese in Mund auf die Zunge

genommenen Tage alle bitter - aber laut schreiend

diese Tage laut schreiend daß ich sie wieder ausspucken solle

daß ich sie wieder ausspucke da spucke ich auch HERZ aus

Fransen von Herz auch Fasern (zu sehr ins Bild?) alles

voll Blut Fransen blutrot auf Estrich, ich weiß nicht

HERZ ausgespeit, spucke mich selbst aus, spucke HERZ aus,

ROHE VERZWEIFLUNG, schreie brülle möchte

irgendwohin

irgendwie weg, auf hohe Bäume Berge Spitzen von Blumen

Gewölk oder was...

Viele Gedichte schreien und brüllen so, schamlos, rücksichtslos, doch wird Mayröcker in den Gefühlsausbrüchen nie sprachlos, bleibt immer wahrhaftig über die Schmerzgrenze hinaus. Die seit sechs Jahrzehnten geübte Praxis des lyrischen Schreibens als Weltanverwandlung hat, wie beispielsweise "Gesang im Winter" zeigt, den Körper der Dichterin zu einem empfindlichen und klangvollen Instrument für die Poesie werden lassen. Seit Rückert wurde körperlicher Verfall, Altern und Vergehen nicht mehr so genau wahrgenommen und in Poesie überführt. Wie der Körper an Integrität verliert, verfeinert sich sein Sensorium für die akute Leibesgegenwart, für Lebenslustmomente und für die überfallartige Präsenz vergangener Seinszustände: "aufsteht die / 60, 70 Jahre alte Erinnerung zum Anfassen drastisch". Ihre "Bewusztseinsmaschine" läuft zur Freude der Autorin wie der Leser auf Hochtouren, und so strahlt in zahlreichen poetologischen Sätzen Schöpfungsglück, feiert Mayröcker das "Honig Verlangen : Ingwer Verlangen des Schreibens" und den Rausch "zu knien in angefachter Besingung / vor der Maschine (wie die Koralle anzieht das Blut : / Giordano Bruno)". Freigiebig streut sie Gedichte aus, bringt sie Freunden dar oder Kollegen, produziert dabei Gelegenheitslyrik - im Goethe'schen Sinn - von höchster Qualität. Mayröcker wendet darin ihre oft erprobte typografische Differenzierungstechnik an, wiederholt, variiert Wörter, versetzt sie mit ähnlich klingenden in einen Assoziationstaumel. Sie wird nicht müde, neue Wörter zu erfinden, wie "tempelhüpfen", "haarverwüstet", "Wellenhaupt". Ihre Schreibumgebung, die Wohnung Jandls bedichtet sie, versenkt sich in die Flora, preist Maler von Dürer bis Pollock und Dichter von Hölderlin bis Kling. Das alles stellt sie mit Emphase vor den Leser hin, kitzelt ihn aber auch mit Widerborstigem, entlockt ihm ein Lachen (von Melancholie gefolgt) mit dem Gedicht "des Dichters telefonisches Grollen über die häusliche Nachlässigkeit der Dichterin", öffnet Sinnräume durch ihr notorisches "usw." und bremst Pathosschwung durch ein schlichtes "oder was". Kein Wunder, dass man am Ende des Buches hofft, Mayröckers Sehnsucht möge noch oft Erfüllung finden:

"Habe Sehnsucht nach meinen (noch) nicht geschriebenen Werken".

Titelbild

Friederike Mayröcker: Mein Arbeitstirol. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
216 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518413937

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