Von der antisemitischen Zeitstimmung nicht unberührt

Michael Fleischer klärt das Verhältnis Theodor Fontanes zur "Judenfrage"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fraglos ist von den deutschen Autoren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der märkische Dichter Theodor Fontane immer noch der bekannteste. Weniger bekannt sind allerdings dessen Plädoyers in der "Judenfrage". Während sich Fontane noch 1855 für "jene allmähliche Amalgamierung, die der stille Segen der Toleranz und Freiheit ist", aussprach, gelangte er in seinem Todesjahr 1898 zu dem harschen Schluss, dass jedweder Versuch der jüdischen Assimilation an das Deutschtum gescheitert sei, und zwar primär durch die Schuld der Juden, die Fontane als "ein Volk" beschreibt, "dem von Uranfang an etwas dünkelhaft Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann." Als ob diese Äußerungen noch nicht verstörend genug wären, gilt es eine weitere dubiose Äußerung Fontanes heranzuziehen, die ursächlich dafür gesorgt hat, ihn in der wissenschaftlichen Forschung als einen "philosemitischen Antisemiten" (Wolfgang Paulsen) zu präsentieren. Gemeint ist das bekannte Gedicht "An meinem 75ten" (1894), in dem Fontane enttäuscht auf die fehlende Anerkennung durch die von ihm in zahlreichen Balladen und Gedichten geehrten märkischen Junker reagiert. Die Abkehr vom geliebten Adel wird allerdings von einer in herablassendem Ton gehaltenen Aufforderung an die Juden orchestriert: "Kommen Sie, Cohn." Seit seinem Bekanntwerden im engsten Freundeskreis blieb das Gedicht in höchstem Maße umstritten. Fontane selbst hegte Zweifel an einer Veröffentlichung des Textes, weil er gleichermaßen den Adel und die Juden beleidigen könnte. Seitdem das Gedicht 1899 in der von seinem Sohn Friedrich Fontane herausgegebenen Zeitschrift "Pan" schließlich doch veröffentlicht wurde, gilt es als Beleg für Fontanes - vorsichtig ausgedrückt - problematisches Verhältnis zum Judentum.

Während ihm in der Fontane-Philologie eine eher harmlos ironisch klingende Bedeutung zugemessen wurde, spricht Günter Grass in seinem Fontane-Roman "Ein weites Feld" (1995) von dem "frivolen, ungemein witzigen, doch insgesamt abartigen, weil Ihren Ruf als deutscher Schriftsteller für alle Zeit schädigenden Geburtstagsgedicht". Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass Grass für diese Feststellung von der Fontane-Forschung wenig Beifall erhielt, da dessen historischer Brückenschlag als zu gewagte Konstruktion erschien. Mehr Anklang fand dagegen ein grundlegender Artikel des jüdischen Pädagogen Ernst Simon, in dem Fontanes ambivalentes Verhältnis zum Judentum wie folgt charakterisiert wird: "Der junge Fontane liebte viele Juden nicht nur als Einzelne, sondern sympathisierte auch mit der Gruppe, weil er an ihre Assimilierbarkeit so glaubte, wie er die fast vollendete Assimilierung seiner eigenen Hugenottenkolonie vor sich sah. In seinen mittleren Jahren wurden ihm einzelne Juden immer mehr zu erfreulichen Ausnahmen. Der alte Fontane nimmt auch diese Ausnahmen wieder vor und mäkelt an ihnen; außer den Toten besteht vor ihm fast nur noch Brahms, aber auch er nur beinahe: 'Schade, daß dem irgend etwas Essentielles fehlt.' (1890)." Dass Fontane nach den begrifflichen Vorstellungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Antisemit zu bezeichnen ist, hat der amerikanische Germanist John Kremnitzer 1972 festgestellt. Seine das Problem mit den einschlägigen Textstellen in Fontanes Briefwerk erfassende Arbeit darf bis heute als grundlegend angesehen werden, zumal Kremnitzer in ausgewogener Weise 'philosemitische' und 'antisemitische' Äußerungen Fontanes kontrastierend gegenüberstellt. Sein Urteil, Fontane sei ein relativ gemäßigter "wilhelminischer Antisemit", blieb jedoch weitestgehend unbeachtet.

Diesem Schicksal entging der amerikanische Germanist Wolfgang Paulsen, dessen 1981 veröffentlichter Essay "Theodor Fontane - The Philosemitic Antisemite" mitsamt seiner Schlussfolgerung, Fontanes Romane steckten voller "antisemitischen Dynamits", das solange keinen Schaden anrichte, wie es sorgfältig bewacht werde, "bei einer Explosion jedoch tödlich ist", heftigen Widerspruch fand. So wertete etwa Hans Otto Horch Paulsens These, ein Antisemitismus wie derjenige Fontanes habe gewissermaßen noch von Staat und Gesellschaft unter Kontrolle gehalten werden können, so dass er zu seiner Zeit keinen Schaden habe anrichten können, als eine "harte Attacke", weil Paulsen damit ein Verfahren gegen Fontane eröffnet habe, das diesen auf die Anklagebank bringe.

1988 griff Jost Schillemeit das Verhältnis Fontanes zu den Juden noch einmal auf, indem er sich explizit auf die Arbeiten Kremnitzers und Paulsen bezog. Er bestätigte deren Ergebnisse, dass Fontanes Stellung zum Judentum zwei Seiten habe, eine für ihn typisch ambivalente Haltung. Darüber hinaus präzisiert Schillemeit, Fontane gelange immer dann in die Nähe antijüdischer Zeitströmungen, wenn seine "nationalen oder vielleicht besser: patriotischen Vorurteile" tangiert würden. Fontane reagiere dann mit dem "Gefühl und dem Ausdruck der eigenen Gruppendifferenz". Auf der anderen Seite verfüge Fontane auch über die "Fähigkeit zu einer freieren, 'kosmopolitischen' Art der Betrachtung, die an der 'Gesamt-Erscheinung der Gesellschaft' interessiert ist und danach fragt, was für sie vorteilhaft oder nachteilig ist." Unter diesem Aspekt, so Schillemeit weiter, betrachte Fontane den Beitrag der Juden zur deutschen Kultur durchaus positiv. Basierend auf den genannten Arbeiten zeichnet sich in der germanistischen Forschung der Trend ab, Fontane als einen Antisemiten eigener Prägung zu verstehen. So spricht etwa Norbert Mecklenburg in einer Untersuchung über Fontane von einem "bald mehr, bald weniger latent bleibenden Alltagsantisemitismus, der ihn als solcher gar nicht zu Bewußtsein kommen mußte, weil er so verbreitet war". Der Historiker Gordon Craig bemerkt in seiner 1997 erschienenen Arbeit "Über Fontane" zu dessen Verhältnis zu den Juden eher zurückhaltend: "Der Schriftsteller tat sich mit der Judenfrage immer schwer. Obwohl er viele enge Freunde und Briefpartner hatte, die Juden waren (zum Beispiel Georg Friedländer, der Intimus der späten Jahre), und obwohl er oft behauptete, die jüdische Mittelschicht sei unendlich gebildeter und geistig anregender als die nicht-jüdische, machte er sich Sorgen um die langfristigen kulturellen Auswirkungen des Anwachsens der jüdischen Bevölkerung und äußerte sich in seinen Briefen immer pessimistischer über die Erfolgsaussichten der Assimilation."

Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Helmuth Nürnberger in seiner ebenfalls 1997 erschienenen Schrift "Fontanes Welt": "In der Folge [nach dem Erscheinen von 'L'Adultera'] häufen sich auch bei ihm antisemitische Spitzen, in erkennbarer Korrespondenz zu dem sich in den achtziger Jahren rapide verschlechternden gesellschaftlichen Klima. Zwar kann von Antisemitismus im eigentlichen Sinn bei ihm nicht die Rede sein, aber er leistete der Zeitstimmung auch keinen Widerstand. Vom Scheitern der Assimilation wird er sich schon bald überzeugt halten." Am Ende seines Lebens sei Fontane, so Nürnberger betont verharmlosend, "von der antisemitischen Zeitstimmung nicht unberührt" geblieben, er habe in einem Brief an Friedrich Paulsen sogar seinen Freund Friedlaender "und zwar ausdrücklich als Juden preisgegeben". Nürnberger bezieht sich hier auf einen Brief vom 12. Mai 1898, in dem Fontane eine unüberwindliche Kluft zwischen dem Judentum und der "arischen Welt" feststellt. In diesem wird Friedlaender als "klug und gescheidt und mit einem ehrlich verdienten eisernen Kreuz bewaffnet" beschrieben. "Und doch Stockjude, so sehr, daß seine feine und liebenswürdige Frau blutige Thränen weint, bloß weil ihr Mann die jüdische Gesinnung nicht los werden kann."

Die jüngste Arbeit zu diesem Thema stammt aus der Feder von Michael Fleischer, der Fontanes Äußerungen zu Juden und Judentum von den ersten Anfängen bis zu dessen Tod 1898 nachzeichnet. Mit einigem Recht erinnert er in seinen einleitenden Bemerkungen daran, dass es nötig sei, wenn man Fontane in seiner Stellung zu so genannten "Judenfrage" gerecht werden wolle, sich zu vergewissern, von welchem zeitlichen Standort aus man sie betrachte. Hierbei bestehe allerdings die Gefahr, dass die historische Wertung ausschließlich aus der Perspektive der Shoah wahrgenommen werde. Diskriminierende Äußerungen über Juden im vorigen Jahrhundert gerieten in den Verdacht, zu den direkten Ursachen für den Judenmord zu gehören: "Geht man davon aus, daß historische Kontinuität immer ein dichtes Geflecht auch scheinbar entfernt liegender Dinge ist, so wird man auch beiläufig geäußerte Bemerkungen Fontanes zu Juden oder zu einzelnen Aspekten des Judentums beachten müssen. Sie müßten dahingehend überprüft werden, inwiefern sie typisch für den allgemeinen bürgerlichen Antisemitismus sind, der in das 20. Jahrhundert hineinreicht." Fleischer spitzt den Fokus seiner Untersuchung auf die Frage zu, ob Fontanes programmatisch wirkende Formel aus dem erwähnten Brief vom 12. Mai 1898, "ein Volk, dem von Uranfang an etwas dünkelhaft Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann" vom heutigen Standpunkt aus betrachtet als bedenklicher einzustufen sei als der schale Witz über ein prononciert jüdisch wirkendes Profil vom 17. August 1883: "Die Gesellschaft hier wird immer profilirter, immer ramseshafter". Nach Fleischer gilt es zu klären, ob die formelhaft zitierten Klischees antisemitischer Einstellung, die Fontane aus seiner Zeitungslektüre gewonnen haben könnte, "harmloser" seien, weil im politischen Alltag letztlich unschädlich, da der organisierte Antisemitismus im Wilhelminischen Kaiserreich niemals maßgeblichen Einfluss gewann, oder ob umgekehrt die beiläufig geäußerten antisemitischen Anspielungen, die mitunter vulgären Anzüglichkeiten, mit denen Fontane seine Briefpartner zu unterhalten trachtete, in Wirklichkeit Symptome einer tief verwurzelten Aversion gegen Juden seien.

Klarheit über diese Fragen sucht Fleischer dadurch zu erhalten, dass er die Äußerungen Fontanes zu Juden und Judentum seiner Zeit im jeweiligen Kontext seiner persönlichen Situation vor dem Hintergrund der damaligen gesellschaftlichen Zustände betrachtet. Mit Akribie und enormem Kenntnisreichtum skizziert er eine Übersicht über die Erwähnung von Jüdischem und Juden in Fontanes Gesamtwerk. Neben dem schon erwähnten Briefcorpus zieht Fleischer auch die spärlichen Tagebuchnotizen zur "Judenfrage" heran und untersucht ferner die Romane Fontanes auf die oft unterschwelligen antisemitischen Spitzen. Mit Recht wird darauf verwiesen, dass Fontanes Einstellung zur "Judenfrage" nur im Blick auf korrespondierende Bezüge im Gesamtwerk verdeutlicht werden könne. Wenig überraschend, hat man die oben skizzierte Forschungsgeschichte gerade auch der letzten Jahre im Blick, ist jedoch Fleischers Fazit: "So wenig dieser [Fontane] zu den ideologischen Vorläufern des Holocaust gerechnet werden kann, so sehr ist andererseits zu beachten, daß Fontane in seinem bürgerlichen Antisemitismus eine gerade auch unter akademisch Gebildeten weit verbreitete negative Einstellung gegenüber den Juden teilte. Sie wurde in das 20. Jahrhundert tradiert und bestimmte in großem Maße das Bewußtsein der Führungseliten im Bürgertum in der Zeit der Weimarer Republik und des Dritten Reiches." Zu wünschen wäre, dass die künftige Fontane-Forschung wenigstens hinter diesen Erkenntnisstand nicht wieder zurückfällt.

Titelbild

Michael Fleischer: "Kommen sie, Cohn!". Fontane und die "Judenfrage".
Selbstverlag Michael Fleischer, 1998.
393 Seiten, 12,60 EUR.
ISBN-10: 3000025537

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