Kunst muß schockieren dürfen

Zwölf Beiträge zur modernen und postmodernen Kunsttheorie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im September 1998 fand zum zweiten Mal das Philosophicum der Arlberger Gemeinde Lech statt. Diesmal befaßten sich die Teilnehmer mit moderner und postmoderner "Kunst zwischen Animation und Askese". Der Sammelband der zwölf Vorträge präsentiert Beiträge zu verschiedenen Kunstformen, wie etwa der Neuen Musik (Elmar Budde) und Aufsätze zu einzelnen Künstlern wie Francis Bacon (Robert Kudielka), sowie kunsttheoretische Erörterungen grundsätzlicher Art (z.B. Boris Groys und Martin Seel). In ihnen liegt die besondere Stärke des Bandes.

Den Auftakt bildet ein Aufsatz des Herausgebers Konrad Paul Liessmann. Er hält dafür, daß Kunst schockieren darf und zwar "durch ihre sinnliche Qualität". Ohne die Reaktion des Schocks, so Liessmann, fehle geradezu die authentische Kunsterfahrung. Hiervon ausgehend spürt der Autor dem Paradoxon nach, daß durch die moderne Kunst nicht ihre "Liebhaber und Verteidiger" geschockt sind, sondern diejenigen, die jenen als Banausen gelten. Das kann so verstanden werden, daß sich im schockierten Ausruf "Das soll Kunst sein?!" der "Banause als Kenner" erweist, während sich umgekehrt im gelassenen Museumsbesucher der "Kenner als Banause" offenbart. Liessmann hebt dieses nur scheinbare Paradoxon durch die Erkenntnis, daß der "wahre Banause" sich darin zeige, daß er im Museum auf etwas schockiert reagiert, das ihn als Teil der (Medien-)Realität "schon längst nicht mehr schockieren" kann - blutverschmierte Körper etwa.

In Auseinandersetzung mit Harold Rosenberg kritisiert Rudolf Burger, daß Kunst seit der Aufklärung mit einem "Wahrheitsanspruch" belastet sei. Nichts weiter als ihre "Begleitrhetorik" halte sie noch über Wasser. Doch relativiert er sein Verdikt in gewissem Sinne. Zwar lebe die Kunst nur mehr von "ritualisierten gesellschaftlichen Umgangsformen", die nicht zuließen zu sagen, "was man wirklich sieht", doch sei dies zu sagen ein "kulturfeindlicher Akt", wie der Autor "ohne alle Ironie" meint.

Ausgehend von Schelling vertritt Cornelia Klinger die Auffassung, die von der Französischen Revolution initiierte "utopische Hoffnung auf ein neues Zeitalter" sei in die "Utopie Kunst(werk)" transformiert worden. In bildender Kunst und Poesie sollte nun die in der Realität gescheiterte "Überwindung der Entfremdung und Entzweiung" unternommen werden. Diese "Umdeutung" habe sich als "ungeheuer produktiv" erwiesen. Darüber hinaus habe sie die Definition von Kunst und Ästhetik bis in die Gegenwart bestimmt.

Im Anschluß an die Feststellung, daß die "Praxis der Askese" insbesondere für die moderne Kunst entscheidend sei, gelangt Boris Groys zu der These, daß das "Verdienst eines Künstlers der Moderne" darin bestehe, daß er sich auf bestimmte künstlerische Formen sehr viel radikaler beschränke, als es bislang "üblich und denkbar" gewesen sei. Denn der Künstler der Moderne praktiziere nicht die "Akkumulation des künstlerischen Umgangs mit der Welt, sondern ihre Reduktion". Interessanter jedoch ist eine weitere These, daß man nämlich Bilder stets auf zweierlei Arten "sehen und interpretieren" könne. Zum einen "im Sinne der Selbstpräsentation, der autonomen Manifestation der eigenen Beschaffenheit". Zum anderen jedoch auch als "Abbildung des äußeren Scheins, als Re-Präsentation einer äußeren Form, die das Innere des Bildes nach wie vor auch dann verdeckt, wenn diese Form durchaus nicht traditionell aussieht." Im Anschluß hieran wirft er die Frage auf, ob "jedes avantgardistische Bild nicht zugleich postmodern, d.h. als zitierend" verstanden werden könne. Daher bliebe die "Wahl zwischen zwei Interpretationen des Bildes - als Selbstmanifestation und als Abbildung - unentscheidbar". Leider stellt der Autor eine weitere, naheliegende Frage nicht: Was zeichnet ein Bild in der Interpretation als Selbstpräsentation überhaupt als Bild aus, was unterscheidet es also von jedem beliebigen anderen Gegenstand? Vielleicht meint er aber, daß es gerade der Dualcharakter sei, der ein Bild ausmacht. Das wäre zwar eher plausibel, doch dann versteht er es nicht, seine Auffassung deutlich zu machen. Die Entscheidung zwischen diesen beiden widerstreitenden Interpretationen, so Groys weiter, könne durch "keine optische Erfahrung und Kriterien" herbeigeführt werden. Somit stelle das avantgardistische Kunstwerk den Rezipienten vor eine Entscheidung, die nicht so sehr für das Kunstwerk als für ihn selbst "schicksalhaft" sei: "Das gewohnte Werk-Betrachter-Verhältnis" werde "umgedreht". Es sei das Werk, das den Rezipienten "beurteile". Eine stark an Lacan und Baudrillard erinnernde These also, die der Autor damit begründet, daß die Zustimmung zum avantgardistischen Bild nicht durch "Einsicht, Evidenz und zwingende Wiedererkennung" geschehe, sondern vielmehr durch eine "Ur-Entscheidung, ein unreduzierbares Urbekenntnis." Das klingt dann doch allzu salbungsvoll. Handelt es sich nicht vielleicht einfach nur um die Willkür oder freie Wahl des Betrachters?

Der den Band abschließende Aufsatz stammt aus der Feder Martin Seels. Er versteht die Distinktion der "Kunst zwischen Animation und Askese [...] nicht als eine Alternative, sondern als eine Polarität". Doch sei letztlich Animation der Zweck jeglicher Kunst, "wie ekstatisch oder asketisch, opulent oder sparsam" sie dabei auch immer vorgehen möge. Grund hierfür sei, daß Kunst stets auf die "leibliche Präsenz ihrer Rezipienten" ziele. Das gelte auch für die "scheinbar 'asketische' Kunst, die sich nur anderer Mittel bediene als die "ekstatische". Das Ziel bleibe dasselbe, nämlich die "Verführung zu einer Lust der Selbst- und Weltanschauung an einem fremden Objekt". Seel entwickelt seine Position mittels einer vehementen Kritik an Arthur C. Danto, dessen Argumentation er auch schon mal Irrwitz attestiert. Für Danto liege die "Würde" der Kunst darin, daß sie über "ihr sinnliches Erscheinen immer schon hinaus" sei. Kunstobjekte seien "anders, als sie den Sinnen zu sein erscheinen". Sie würden Ideen verkörpern, die ihnen nicht "angesehen" werden könnten, sondern vielmehr durch Produzenten und Rezipienten "zugeschrieben" würden. Diese Auffassung Dantos bezeichnet Seel als "grundverkehrt", und er versteht es, seine Kritik überzeugend zu begründen. Sie basiert auf der zentralen These, daß kein "gelungenes Kunstwerk" jemals "das Erscheinen hinter sich gelassen" habe: Kunstgegenstände blieben stets "Objekte eines spezifischen Erscheinens". Man müsse allerdings die "normale sinnfällige Erscheinung eines Gegenstandes klar von seiner artistischen unterscheiden".

Titelbild

Konrad Paul Liessmann: Im Rausch der Sinne.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999.
312 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3552049185

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch