Eine Lanze für die Selbstmörder

Mit seiner Mainländer-Auswahl zimmert Ulrich Horstmann weiter an seiner Galerie für Lebensmüde

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ulrich Horstmann hat vor allem durch seine Streitschrift "Das Untier" (1983) eine gewisse Berühmtheit erlangt. Der Selbstmörder, so heißt es in diesem Bestseller der apokalyptischen Literatur, antizipiere "den ultimativen Akt der Gattungsannihilation in einer Art ungeduldigen Symbolismus". Denn jeder, der Hand an sich lege und so ostentativ für das Nichtsein votiere, richte "mit seinem entseelten Leib ein Mahnmal gegen den humanistischen Überlebensdünkel und die satte Trägheit (auf), die das Kollektiv von seinem Weg nach Harmageddon abführen will."

Weniger bekannt ist, dass der Gießener Anglist auch als Übersetzer und Herausgeber einiges vorzuweisen hat. In unermüdlicher Editionsarbeit hat er Robert Burton ("Anatomie der Melancholie", 1988), James Thomson ("Nachtstadt", 1992) und Jack London ("Ruf der Wildnis"/"Wolfsblut", 1991ff.) ins Deutsche übertragen. Auch Oscar Wilde ("Das Bildnis des Dorian Gray", 1992), Ted Hughes' ("Gedichte", 1995), Robinson Jeffers' ("Jeffers-Meditationen", 1998) und Philip Larkin ("Hier", 2003) sind dank Horstmann der deutschen Sprache mächtig.

So beeindruckend eine derartige Publikationsliste auch erscheint, die illustre Titelfolge bleibt eine Äußerlichkeit, gemessen an dem, was den Übersetzer Horstmann insgeheim umtreibt. Unter der Unschuldsmine des kreuzbraven Philologen blättert sich nämlich Atemberaubendes auf. Da windet es sich mit schmerzverzerrter Mine auf dem Fußboden, protestiert hitzköpfig oder schnappt unter geweiteten Pupillen nach Luft. Gleich einem Kohleflöz schiebt sich eine schwarze Zunge durch das Zahnweiß.

Denn auch die Herausgaben folgen dem selbstmörderischen Programm. In ihnen errichtet sich Horstmann eine Galerie der Lebensmüden und freiwillig Abgetretenen. Robert Burton hat ebenso Hand an sich gelegt wie der nach zahlreichen Alkoholexzessen an einer Medikamentenüberdosis gestorbene Jack London. Den völlig betrunkenen in seinem brennenden Zimmer sitzenden James Thomson rettete nur der hereinstürzende Vermieter vor dem Feuertod. Robinson Jeffers erlebte sich mit seinem "Dasein an der Klippe" genauso randständig wie Oscar Wilde, der sich über sein bevorstehendes Ableben keinerlei Illusionen mehr hingab. Und als "Ehemann der Selbstmörderin Sylvia Plath" konnte Ted Hughes immerhin noch am suizidalen Untatendrang seiner Frau partizipieren.

Mit der bereits 1989 im Insel Verlag vorgelegten und jetzt noch einmal ergänzten Auswahl aus dem Werk des Offenbacher Philosophen Philipp Mainländer klopft Horstmann einen Stein aus seiner Urnenwand noch einmal fest: Der Sonderling und Militarist Mainländer gab den Hangman in der Nacht zum 1. April 1876, genau einen Tag nach dem Erscheinen seiner zweibändigen, 1.300 Seiten umfassenden "Philosophie der Erlösung".

Welches Bild des literarischen Schreibprozesses soll uns diese grandiose Verlustliste vermitteln? Ist angesichts der freiwillig aus dem Leben geschiedenen Autoren etwa existenzielle Ernüchterung angezeigt, die beklemmende Einsicht, dass poetischer Schaffensdrang und lebensgeschichtliche Katastrophen aus ein und demselben Holz geschnitzt sind?

Ja und nein. Laut Walter Muschgs bejahrter "Tragischer Literaturgeschichte" (1957) existiert zwischen dem Erlebnis von Ohnmacht und existenzieller Enttäuschung eine innige Verbindung. "Der tragische Dichter", schreibt Muschg, "stellt sich dem tiefsten Schmerz, der alle optimistischen Erklärungen des Daseins entwertet. Er erkennt Dissonanzen und Disharmonien, die nur auf Kosten des Menschen gelöst werden können, und entschleiert die Wahrheit, deren Anblick niemand aushält. [...] Aber dieser Schmerz entbindet zugleich Kräfte, die sonst nirgends frei werden. Er stellt sich als letzter Wert heraus, der in sich eine Antwort ist. Darin liegt das Geheimnis der tragischen Kunst."

Auch Horstmann liegt nichts so fern wie die Erfolgsstorys der literarischen Ehrgeizlinge, der nassforschen Könner und Saubermänner. Trotzdem ist aus seiner Sicht tragische, oder besser, melancholische Dichtung von schwarzgalligem Pessimismus genauso weit entfernt wie von düsterer Todessehnsucht und literaturhistorischer Nekrophilie. Anders als die postmoderne Literaturwissenschaft, die das Zeichensystem 'Text' zur alleinigen Referenz erklärt und sich von der Person des Autors lossagt, interessiert er sich für die Geschichte und die Geschichten rund um den Autor.

Die Mainländers findet ihr vorläufiges Ende auf einem aus den druckfrischen Exemplaren der "Philosophie der Erlösung" errichteten Podest: "Die Schlinge hängt schon am richtigen Platz. Der 34-jährige Weltenenträtseler streift sie über den Kopf, ruckt sie fest. Dann beginnt die Beinarbeit. Die Bücher stieben davon. Das Seil strafft sich. Ein forciertes Luftanhalten setzt ein." Solche Bilder entstehen im Kopf. Indem sie die brutale Realität des Selbstmordes literarisch verarbeiten und zwischen die aufgeklappten Buchdeckel zurück verfrachten, lassen sie erahnen, worauf der Herausgeber so beredt hinauswill.

Wenn Mainländer sich bei der Niederschrift seiner Erlösungsphilosophie körperlich und geistig verausgabte und so gewissermaßen dem Ende entgegen schrieb, dann müssen sich solche Erfahrungen literarisch objektivieren. Sie müssen Produktivkräfte entfesseln, die seinem Hauptwerk eine unverwechselbare Färbung geben. Darum will auch der Umkehrschluss nicht greifen, dass anhaltende Erfolglosigkeit, Alkoholismus, Scheitern und Suizid den Werken von Horstmanns Gewährsmännern eine Art Qualitätssiegel aufdrücken. Dazu braucht es mehr, nämlich die ästhetische Bewältigung des scheinbar Sinnlosen.

Im Falle von Philipp Batz, so Mainländers bürgerlicher Name, ist das Ergebnis ein "getragene[s] Nachtstück für Trübsalbläser und Solo-Schredder", für das der Weltprozess von einem universalen "Willen zum Tode" durchwaltet wird und mit Abnutzung, Seinsverschleiß und Wirklichkeitszersetzung gleichzusetzen ist. Nach Mainländer ist die Welt kein Produkt einer göttlichen Schöpfung, sondern einer metaphysischen Erschöpfung. Der Demiurg dieses Trümmerhaufens, der die selbstmörderische Bewegung vom Über-Sein ins Nichts vollzieht, gleicht nicht von ungefähr seinem Offenbacher Jünger.

Kraft seiner ingeniösen Eingebung, dass alle Wesen wesen, entwirft Mainländer die erste und einzige Metaphysik der Entropie, die in zahlreichen Punkten unser naturwissenschaftliches Weltbild vorwegzunehmen scheint, laut Horstmann über "Echoeffekte" jedoch nur uralte mythische Sichtweisen reaktiviert. Was den Autodestruktionsdenker Mainländer ausmacht, ist demnach auch nicht sein wissenschaftlicher Sachverstand, sondern seine "mythopoetische Sensibilität".

So ist es nur konsequent, dass Horstmanns Auswahl den Dichterphilosophen und Untergangspoeten Mainländer wieder zugänglich macht und neben einschlägigen Kapiteln aus der "Philosophie der Erlösung" auch die Novelle "Rupertine del Fino" sowie die unter dem Titel "Meine Soldatengeschichte" versammelten Tagebuchblätter aufnimmt - und damit einen wichtigen Beitrag zum rezeptionsgeschichtlichen Reanimationsschub der letzten Jahre leistet. Das Wieder-Einspielen des poetischen Hintergrundrauschens gelingt freilich nur, indem Horstmann seinen Schützling vor einem folgenschweren Selbstmissverständnis bewahrt. Der diesbezüglich mit Blindheit geschlagene Mainländer hoffte nämlich ein reines philosophisches System auf die unter dem Körper wegrutschenden Beine zu stellen und degradierte das Ästhetische zum spekulativen Exerziergelände.

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Philipp Mainländer: Vom Verwesen der Welt und anderen Restposten. Eine Werkauswahl.
Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Recklinghausen 2003.
252 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3933497744

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