Priapeische Tänze

Neue Gedichte und Zeichnungen von Günter Grass

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der großformatige, bibliophil ausgestattete Band enthält 36 neue Gedichte und 32 mit schwarzer oder roter Kreide gezeichnete Bilder. Die Zeichnungen spiegeln den Aufbau des Bandes: Sie zeigen zuerst tanzende, dann in verschiedenen Stellungen kopulierende Paare und schließlich eine auf dem Kopf stehende Figur. Mehrfach sind in diese Zeichnungen die Gedichttexte, auf die sie sich beziehen, als Autographen eingeschrieben; sie sind nicht immer völlig identisch mit dem gedruckten Text - so dass auch entziffernde und vergleichende Philologen etwas zu tun bekommen.

Es sind betont autobiographische Gedichte, die Grass hier versammelt hat. Das lassen bereits die ersten Zeilen des Buches unverstellt erkennen: "Als ich des Schiffes Untergang / und den nachhallenden Schrei / zum Buch verkürzt hatte, / wollte ich etwas Heiteres / zum Gegenstand meiner Laune machen / und begann aus Töpferton, / der feucht und vorrätig alt roch, / Figuren -Mann und Frau in Bewegung - / als Hohlkörper zu formen". Die Figuren, Bilder und Gedichte entstanden also im Anschluß an die aufsehenerregende Novelle "Im Krebsgang" (2002), die die Geschichte und den Untergang des Flüchtlingsschiffes "Wilhelm Gustloff" behandelte.

Das Einleitungsgedicht ("Gottähnlich") berichtet unverhohlen von der glücklichen Erfahrung der Verjüngung durch die künstlerische Produktivität: "Verjüngt war ich gottähnlich". Solche Erfahrung zählt doppelt im Alter, wenn sie nicht überhaupt nur im Alter zählt. In der Bewegung des Tanzes, in der - noch immer - vorhandenen sexuellen Lust, im unveränderten Bekenntnis zum "Sisyphus-Prinzip" (ich "nannte Glück, was mich bergaufwärts trieb"), in der Freude an den künstlerischen Hervorbringungen und an den zahlreichen Söhnen, Töchtern und Enkeln findet sie ihre Bestätigung. Und der nach wie vor regsame "Pimmel", das Wunder ("er steht"), der "Einundalles" ist - nicht ohne Stolz präsentiert - die Gewähr für gottähnliche Jugend und unveränderte Produktivkraft.

Die poetischen Ergebnisse dieser priapeischen Potenz besitzen ihrerseits kraftvolle Lebendigkeit und Individualität. Die inhaltliche und formale Variationsbreite der Gedichte könnte kaum größer sein: Sie reicht vom ungereimten Dreizeiler "Heftige Stösse" bis zum weitausgreifenden, 18 gereimte fünfzeilige Strophen umfassenden, bewunderungswürdigen Bekenntnis-Gedicht "Des Wiederholungstäters halbherzige Beichte" und von der aufgerauhten, kantigen Polka-Sprache ("Zugabe") bis zu sorgfältig den Tangorhythmus aktivierenden Versen ("Tango nocturno" und "Tango mortale"). In weiteren Tanzgedichten begegnen der Blues, der Wiener Walzer, der Ragtime, der Beat und der Slowfox, meist im Zusammenhang mit persönlichen konkreten Gelegenheiten oder Lebenssituationen; sie sind freilich eingebunden in die überpersönliche Zeitgeschichte und reichen von der frühen Nachkriegszeit bis zu "des Cowboys Raketen" in der jüngsten Gegenwart. So hat, der hier spricht, den "Schieber" genannten Tanz "Gelernt, als ich Kind noch, / weil Krieg war und Männer / in Stiefeln weit ostwärts, / so daß sich die Mädchen / aus Mangel und Tanzlust / uns Jungs von der Bank weg / mit Fingerschnalz holten"; und "Nach Mitternacht", "gleich nach den Spätnachrichten - / schon wieder droht Krieg -" wird nach der Musik aus dem Küchenradio Slowfox getanzt.

Das ganz Naheliegende und das Allgemeinmenschliche werden auf diese Weise souverän zusammengebunden zu einem Lebenstanz, der zugleich unverkennbar ein Totentanz ist. Der Sensenmann, der Grabstein, die Altersmelancholie sind - aller Lust zum Trotz - stets gegenwärtig in diesen Versen, so daß die "letzten Tänze" natürlich im wörtlichen Sinne auch symbolisch zu lesen sind. Aber es ist keine schwerblütige und schon gar nicht eine wortreiche Symbolik, der hier das Wort erteilt wird. Ein wenig Melancholie und Unerklärbarkeit allerdings bleibt allemal im Spiel:

"Ein Rest soll bleiben und als Mehrwert oder Hypothek,
wenn ich mich fügsam in die Erde leg,
mein Grabstein sein, für Freund und Feind zu finden".

Titelbild

Günter Grass: Letzte Tänze.
Steidl Verlag, Göttingen 2003.
96 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3882438827

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