Glück des Beginnens, überraschendes Ende

Ursula Krechels Handbuch für alle, die schreiben wollen

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der amerikanische Lyriker Kenneth Koch wurde durch ein anrührendes Experiment mit alten Menschen bekannt: Er richtete mit einer Gruppe von Helfern in einem Altenheim in Manhattan eine Elementarschule für Poesie ein und brachte die Insassen zum (lyrischen) Sprechen. Es gab nur eine Regel: Koch 'verbot' den greisen Newcomern die Begriffsfelder Schmerz und Tod, um sie (und damit ihre Gedichte) gegen die dominante (und somit banale) Wahrnehmung ihrer Hinfälligkeit zu immunisieren.

Wir sind geneigt Schreibschulen amerikanischer Provenienz zu belächeln, geht es ihnen scheinbar doch nur um Unterhaltung, um Bestseller, um die "six figure advance" (Dubravka Ugrešic). Andererseits können wir nicht leugnen, dass gute, gut komponierte, überlegte, wenn nicht überlegene Literatur aus Amerika kommt, von der wir uns Manches abschauen könnten - anrührende, bewegende, fesselnde und sogar im deutschen Sinne tiefe und anspruchsvolle Literatur. In Amerika gibt es eben eine Tradition der Schreibschulen und der Schreibschulung, deren Ziel es ist, handwerkliches Können weiterzuvermitteln - zum Wohle (und Wehe) von uns Lesern.

Ist es sinnvoll, eine solche Tradition auch in Deutschland zu stiften? Lässt sich anknüpfen an die zahllosen, teils berühmten Poetiken, die uns seit Aristoteles begeistern und die - ex post - immer wieder als Maßstab an Kunstwerke angelegt werden? Es kommt darauf an: Ursula Krechels "Handbuch für alle, die schreiben wollen" unterscheidet sich angenehm von den im Handel üblichen Schreibschulen und ihren wohlfeilen Rezepten.

"In Zukunft schreiben" ist zunächst einmal ein gedanklich reicher, formal geglückter, sprachlich reizvoller Essay, der auch jenseits der Frage, ob man praktische Nutzanwendung aus ihm ziehen möchte, lustvoll zu lesen ist. Nach der Einleitung ("Am Anfang stehen") wird im ersten Kapitel zunächst der Satz auf sein Potenzial hin befragt: "Ich bin krank". Ein Satz ohne Tiefendimension, wie es scheint, ohne Spannung und Perspektive. Doch der Satz ist das eine, der Text ist das andere. Krechel zeigt sehr anschaulich, dass der einzelne Satz nicht als Bezugsgrenze aufgefasst werden darf, wenn man Literatur beobachten will. Zwar gibt es in sich spannungsvolle und spannungslose Sätze, doch der Kontext erst, die Umgebung des Satzes, seine Spiegelung oder Weiterung entscheiden über sein Geschick. Judith Hermann ist geradezu berühmt für spannungslose Sätze ("Erst redeten wir was, dann schwiegen wir wieder"), die jedoch völlig überzeugend eingesetzt sind und das Lebensgefühl ihrer Protagonisten auf den Punkt bringen.

Ursula Krechel beginnt bei der Mikroanalyse und wendet sich zunächst dem komplexeren Syntagma zu, wie wir es von Thomas Mann oder von Thomas Bernhard kennen. Die "Verführung zum Komplexen" lässt die Kunstanstrengung nicht vergessen, und oft hängt die Balance eines Satzes nur an einem einzigen Wort. Im dritten Kapitel ("Die Basis des Erzählens") kommt die Verfasserin auf den Satz zurück - und zeigt, wie aus Sätzen ein Netz der Bezüge entsteht, inhaltlich, aber auch tektonisch und rhythmisch: "Eine kleine Melodie wird hörbar". Wie jeder guter Autor achtet sie auf die Verteilung der Tempora im Text, die nicht nur von Zeitlichkeit kündet, sondern auch vom Relief eines Textes (von Vordergrund und Hintergrund), von der Textsorte (Sachtexte haben meist ein anderes Tempusgefüge als literarische) und vom Prozess des Denkens und Wahrnehmens, der im Erzählvorgang durch die Tempora "verklammert" wird.

Anschauliche Beispiele aus der jüngsten deutschen Erzählliteratur (Zsuzsa Bánk, "Der Schwimmer", David Wagner, "Die nachtblaue Hose") lassen ahnen, dass Ursula Krechel mit ihrer "Prosawerkstatt" so manchen jungen Autor begleitet und zum Erfolg geführt hat. Ihre wichtigsten Zeugen freilich, auf die sie sich selber beruft, sind moderne Klassiker wie Raymond Queneau ("Stilübungen"), Fritz Zorn ("Mars") oder Thomas Bernhard ("Der Atem"). Bei Bernhard wird deutlich, wie übrigens auch bei Molière, dass eine einfache Zeile wie "Ich bin krank" sehr wohl spannungsvoll intoniert und eingesetzt werden kann. Krankheit ist, so paradox es klingt, zugleich "die beste und glaubwürdigste Blockade" (und von jedem Gesunden unhintergehbar) und der beste Schreibabtrieb. Der Autor, durch Krankheit beeinträchtigt, sucht sich ein Ventil - und kommt vielleicht gerade dadurch zu Ausdrucksformen, die für sein Werk charakteristisch sind. Nicht zufällig lässt ein Kapitel Goethe anklingen ("Die Leiden des werdenden Autors") und entwickelt Strategien zur Überwindung der berühmten Schreibhemmung, die offenbar jeden Autor früher oder später einmal ereilt. In manchen Biographien (Wolfgang Koeppen mag als Beispiel dienen) nehmen "die Gesten des Verschweigens und Verstummens" überhand - Entmutigung und Verzicht sind die Folge, wenn es nicht gelingt, dieser "Schriftstellerhölle" zu entrinnen.

Oft sind es die einfachen Rezepte, die weiterhelfen. Patricia Highsmith empfiehlt jedem Schreibenden, ein Notizbuch zu führen: "Selbst drei, vier Worte lohnt es sich oft aufzuschreiben, wenn sie einen Gedanken, einen Einfall oder eine Laune festhalten. In Dürrezeiten sollte man ab und zu in den Notizbüchern blättern - es kann sein, daß dann ein Einfall plötzlich zum Leben erwacht."

Walter Benjamin empfiehlt, ein solches Notizbuch streng zu führen - "wie die Behörde das Fremdenregister". Doch Segen kann gerade auch über dem Einfall liegen, der quasi mit durchgerutscht ist, dessen Potenzial noch gar nicht erkannt ist und der sich erst mit der Zeit gedanklich anreichert: "Nicht nutzbare Einfälle sind Abfall", schreibt Ursula Krechel in Anspielung auf Rainald Goetz, "Abfälle für alle".

Wer ein Buch zu schreiben beginnt, weiß - gerade als Anfänger - nicht, wohin es ihn führen wird. Erfahrene Autoren bestimmen daher zuerst das "Format". Das Ende kommt dann oft überraschend, unerwartet, unvorherbestimmt. Jedem Ende aber wohnt ein Zauber inne, eine Täuschung, und "mit glückhaften Täuschungen beginnt das nächste Buch".

Titelbild

Ursula Krechel: In Zukunft schreiben. Handbuch für alle, die schreiben wollen.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2003.
215 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3902144661

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