Muss man 4.000 Bücher kaufen, um eins schreiben zu können? Man muss!

Steffen Mensching fasziniert mit einem Buch der Bücher

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jakobs Leiter - auf englisch auch jackladder - ist ein nautischer Begriff, oder auch eine "schnöde Gartenpflanze, die sich wie eine Leiter ranken kann"; vor allem aber die von Jakob zu Beginn seines Exils geträumte Himmelsleiter, wovon die Bibel erzählt (1. Mose 28, 12 ff.): Sie "rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder; und der HERR stand obendarauf und sprach: ,Ich bin der HERR [...]; das Land darauf du liegst, will ich dir und deinem Samen geben'". Tatsächlich war Jakob fruchtbar und wurde zum Stammvater der zwölf Stämme Israels.

"Jacobs Leiter" ist auch eine Art Himmelsleiter, und sie wird zum fruchtbaren Ausgangspunkt für ein Buch, dessen Geschichten sich um andere Bücher und Geschichten ranken. Zu aller erst ist es die Stehleiter, die der Ich-Erzähler von dem Antiquar Jacob oder Jack hingestellt bekommt, um die rund viertausend deutschen Bücher in einer drei Quadratmeter großen "Grabkammer" zu besehen. Das Antiquariat ist in einem Manhattaner Lagerhaus untergebracht, die Bücher sind ein Schatz, der gehoben werden will.

Der Ich-Erzähler begegnet ihm zufällig, weil er im Mai 1998 für drei Monate "writer in residence" an der New York University wurde. Außerdem ist er aber ein Büchernarr, der sich vornimmt, alle Antiquariate New Yorks kennen zu lernen. In Jacobs Antiquariat blättert er die Bücher auf, findet Widmungen, Anmerkungen, Einlagen, Exlibris und andere Spuren ihrer Geschichte mehr. "Sie haben ihr Schicksal, die Büchlein. Stumme Zeugen für alles und nichts, Gefährten, denen die Herrschaft abhanden kam." Ein Exlibris fällt ihm besonders auf: Das von Max Martin Nathan. Es klebt in etwa 50 Bänden. Dann einige Bände mit dem Eintrag "Dem Communisten-Club in New York gehörig" oder so ähnlich: Mit Namenszügen wie Albert Komp, Friedrich Sorge, Dr. Jacobi. Wer mögen diese Menschen gewesen sein?

Manche Bände sind in keinem guten Zustand. "Auf Jacobs Leiter sitzend, hadere ich mit Gott. Will ihm gerade kräftig die Meinung sagen über den Zustand der Welt und den Umgang mit Druckschriften insbesondere, als Jack im Türrahmen erscheint, ein Engel, der den Chef vor Belästigungen bewahrt." Der Vorschlag, den Jack alias Jacob an diesem 27. Juli 1998 eher beiläufig macht, klingt "meschugge", wie es auf jiddisch hieß: "Kauf sie alle", die viertausend Bücher, und schreibe einen "schrecklich erfolgreichen Roman". Die Idee vergisst sich nicht mehr. Mitte August, wieder in Deutschland zurück, wird der Erzähler mit der "Frage der Fragen" konfrontiert: "Muß man 4.000 Bücher kaufen, um eins schreiben zu können?"

Man muss. Jedenfalls Menschings Ich-Erzähler muss. Ende November fährt er wieder nach New York. Zwei Wochen lang packt er eine Bibliothek von rund 4.000 Büchern ein, um sie nach Deutschland zu spedieren (zurück in die alte Heimat?). Und um ein paar Bekannte wieder zu treffen, den "Stammtisch", die Mitglieder der legendären, von Oskar Maria Graf gegründeten "Mittwochsrunde", Leo, Gaby, Trudy, Lily und Hilde.

Die Geschichte der Hilde Berger ist eine der vielen, die in diesem Roman erzählt wird. Der Erzähler rekonstruiert sie aus ihren Erinnerungen und Akten in deutschen Archiven: Die 1914 geborene deutsche Jüdin war Mitglied einer trotzkistischen Splittergruppe. Ihr Vater meinte 1933: "gegen Hitler und gegen Stalin wollt ihr kämpfen? Ihr seid ja verrückt". Hilde und ihr Bruder Hans sind verrückt. Ihr Deckname war Jenny, nach der Frau von Karl Marx. Lange geht das nicht gut, die Gruppe fliegt auf, die Geschwister Berger werden verhaftet, ins Zuchthaus und ins Konzentrationslager gesperrt. Sie überlebt, weil sie im Gegensatz zum Bruder Glück hat und an siebter Stelle von Schindlers Liste stand, die selbst tippte. Weil der Erzähler Berliner und weil er "mit der Parteigeschichte vertraut" sei, erzählt Hilde Berger ihm ihre Geschichte. "Partei", das meint für sie nicht die KP, natürlich nicht, "sondern die Arbeiterbewegung" insgesamt.

Die Arbeiterbewegung ist auch die Heimat jenes Abraham Jacobi, dessen Name dem Erzähler in Jacobs Bibliothek auffiel. 1830 geborener Kaufmannssohn aus Hartum in Westfalen, Mitgründer einer Sektion des Bundes der Kommunisten, 1852 im Kölner Kommunistenprozess freigesprochen, aber nachher wegen Majestätsbeleidigung inhaftiert, promovierter Mediziner, nach England entwichen, von Marx und Engels erst protegiert, bespöttelt und dann verachtet, in die USA gegangen, Mitglied des New Yorker Communisten-Clubs, erfolgreicher Arzt, von Schicksalsschlägen gebeutelt, angefangen vom Tod der geliebten Fanny bei der Geburt des ersten Sohns im Frühjahr 1856 bis zum großen Brand 1918, der das Haus des 88-Jährigen kurz nach dem Tod seiner dritten Frau Mary Putnam mit Hab und Gut verzehrt.

Schwieriger war die Rekonstruktion der Geschichte jenes Max Martin Nathan, dessen Exlibris dem Erzähler in manchen der neu erworbenen Bücher auffiel und dessen frühreife Zeichnungen er im Nowaweser "Kunstblatt der Jugend", Jahrgang 1927/28, findet. Er findet weitere Spuren, kann den Lebenslauf des 1915 in Harvestehude geborenen Rabbiner-Sohns einigermaßen rekonstruieren: Gymnasium in Hamburg, Ingenieur-Studium in Stuttgart, 1939 Emigration nach England, 1940 in die USA, Architekturstudium, Arbeit als technischer Zeichner zwischen St. Louis, Alaska und New York, ein Hagestolz, der Anfang der 1970er Jahre erneut auswandert, diesmal nach Australien und dort Ende der 1980er Jahre in einem Altersheim stirbt. Ein "Durchschnittsleben", findet der Vetter, den der Erzähler irgendwo in Amerika ausfindig gemacht hat; er verstehe "nicht recht, warum und was ich über den Cousin schreiben will".

Der Erzähler deutet sein Tun als "Sport" und als "Zwangshandlung". Andere "belegen Tauchkurse in Ägypten, ich versinke in fremden Biographien." Aber das "Spiel" ist nicht ganz freiwillig. Dahinter steht auch die Frage nach der eigenen Existenz und die nach historischer Verantwortung, nach der "Geschichte", besonders der deutschen Geschichte. "Schreibe ich Nathans Geschichte um seinetwillen, um meinetwillen, um Gottes willen?" Es hat mit allem etwas zu tun.

In die fremden Lebensgeschichten aus anderthalb Jahrunderten, die Menschings Ich-Erzähler mit Akribie und Fabulierlust nachzeichnet, sind Abschnitte zur "Geschichte der Mutter" (die eigentliche Keimzelle des Buchs) und Erinnerungen an die eigene Kindheit eingeflochten. Hier findet sich am ehesten die Frage nach dem Warum, die Nathans amerikanischer Vetter stellte. Der Großvater wurde 1945 verhaftet und saß in der DDR im Zuchthaus; nach seiner Entlassung floh er in den Westen: Folge seiner undurchsichtigen Rolle als Kontrolltruppführer im Kriegsgefangenenlager VIII A in Görlitz: eine "knapp zweijährige Episode, die das Leben meines Großvaters, meiner Mutter und, vermittelt, mein eigenes bestimmen sollte".

Der Großvater ein halber Nazi, "Spitzel und Provokateur", der jetzt im Westen lebte? Schlimm genug für einen Jung-Sozialisten, der immer lieber "mit den Indianern" untergehen wollte, "als mit den Cowboys zu siegen". Als 6-Jähriger wurde der Erzähler (warum auch immer, vielleicht wegen einer Phimose, jedenfalls nicht aus rituellen Gründen) im Krankenhaus "beschnitten". Direkt neben dem Volkspolizeikrankenhauses, wo die Beschneidung stattfand, verlief die Mauer. Als er dort lag, sah der junge Erzähler eines Nachts "Feuerwerk" und hörte eine Gewehr-Salve. Dass die "Mauer" eine besondere Grenze ist, weiß er noch nicht. Von den Fußballvereinskameraden wird der zehnjährige wegen der Beschneidung als Jude ("Bei denen ist das so. Angeboren. Hat mir mein Vater erzählt") identifiziert, was er empört zurückweist. Warum empört? Später ist er stolz, zum "Agitator" seiner Schulklasse gewählt worden zu sein, aber mit Freunden schaut er "Shiloh Ranch" im Westfernsehen. Deutsche Zusammenhänge, deutsche Widersprüche.

"Ich war Hegelianer, schon bevor ich lesen konnte, einmal, da war ich sicher, würde der Weltgeist die Gerechtigkeit zum Tanz führen, ein früher Kindergartenirrtum". Die Literatur aber führt die Gerechtigkeit zum Tanz, manchmal, wenn sie sich nicht verliert im ausschließlich subjektiven "Seelenkäse", wie es Peter Weiss einmal nannte. Von Weiss, dem Mensching in früheren Gedichten seine Reverenz erwies, konnte der Autor lernen, wie man sich literarisch als "Archäologe" betätigt. Und mit "Jacobs Leiter" ist Mensching zu dem Archäologen geworden, der er als Kind werden wollte. Denn der Autor ist zu großen Teilen natürlich mit dem Erzähler identisch, auch wenn der sich schon vorsorglich über jene Kritiker lustig macht, die "versuchen herauszufinden, was erlebt und was erfunden ist". Viel ist nicht erfunden. Menschings Fantasie ist dokumentengeleitet. Aber je mehr er sich an Fakten und historische Wirklichkeit hält, desto poetischer wird sein Werk. Es ist kein "Etikettenschwindel", wenn Mensching sein "Konstrukt" einen "Roman" nennt (wenigstens auf dem Schutzumschlag), wie Jacob, der Antiquar, behauptet.

Was sich zunächst liest wie eine Chronik oder das Journal einer Reise liest, in der die Begegnungen mit Exilanten in New York, dann die Begegnung mit der exilierten Bibliothek im Antiquariat und schließlich die Erfahrungen mit einigen der Bücher daraus berichtet werden, verwandelt sich immer mehr in einen Roman, in ein literarisches "Konstrukt". Mensching lässt sich auf die Realien ein, auf die Besitzer- und Gebrauchsspuren in den Büchern, die Aktennotizen und Gespräche mit Zeitgenossen, er berichtet aber nicht nur von den Ergebnissen, sondern vor allem von der Suche, von der Besessenheit, mit der er auch falsche Spuren verfolgte, die richtigen dann fand. Die Arbeit des literarischen Archäologen präsentiert sich selbst als höchst spannender Roman. Und dann, je mehr der Erzähler herausfindet, je mehr Tatsachen er weiß, desto mehr verlebendigen sich die Figuren, wächst aus dem Dokumentarischen die Erzählung, beflügelt sich die Fantasie - und verrät doch nie die "Wirklichkeit", obwohl diese gelegentlich "kitschiger ist als die Fiktion", wie Mensching zwischendurch einmal selbst bemerkt.

150 Jahre deutsche Geschichte werden in dem Roman lebendig. Nicht die Geschichte von Potentaten, sondern von "Durchschnittsmenschen" - die aber durch die historischen Umstände zu Helden spannend rekonstruierter Erzählungen werden. Zuletzt entsteht doch so etwas wie der ›von unten‹ oder besser gesagt: ›vom Rand‹ her erzählte Roman eines langen deutschen Jahrhunderts. Dieses endet - natürlich - am 31. Dezember 1999 in der New Yorker Wohnung eines Emigrantenpaares. Zusammen mit Frau und Sohn sowie der Gastgeberin Lily schaut sich der Erzähler den Film "The great Dictator" an, jene Verhohnepipelung des Faschismus, die Charlie Chaplin 1938-1940 drehte. Um Mitternacht ist der Film noch nicht zu Ende. Nach dem Anstoßen aufs neue Jahrhundert wollen alle ins Bett, nur der Sohn des Erzählers nicht: "ich will wissen, wie die Geschichte weitergeht". Nicht nur die vom großen Diktator, wird uns suggeriert. Aber weil es ein so zuversichtliches Bild ist, wollen wir dem Autor verzeihen, dass er an dieser Stelle kitschiger wurde als die Wirklichkeit je sein kann.

Sollte nicht der Roman ursprünglich mit dem Satz enden: "The story is the sense of the history"? Einen objektiven Sinn hat die Geschichte der Menschheit wohl nicht. Wir müssen ihn ihr selbst geben, indem wir die Spuren des Geschehenen lesen und die darin verborgenen Geschichten erzählen. Aber die Zeit drängt. "Jetzt mußt du anfangen, sofort, heute noch", beschwört Jacob den Erzähler, der sehr wohl weiß: "Was man nicht rechtzeitig abverlangt, verschwindet einfach". Und so verlangt er den Büchern und Zeitzeugen ihre Geschichten ab. Vielleicht aber verlangte auch die Bibliothek von ihm, dass er sie erzähle? Ihren Auftrag hat Mensching großartig bewältigt.

Titelbild

Steffen Mensching: Jacobs Leiter. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2003.
426 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3351029721

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