Aufmerksamkeit für das Verborgene

Alexander Kluge erhielt in Darmstadt den Georg Büchner-Preis

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Mit seiner Temperatur von 37 Grad, so beschreibt es Alexander Kluge in der kurzen Kalendergeschichte "Die Sehnsucht der Zellen", erinnert sich der Körper noch heute an die Temperatur der Urmeere; jeder Mensch trägt ein paar Millionen Jahre Evolution mit sich herum. Auch die napoleonischen Kriege sitzen uns weiter in den Gliedern. Ganz zu schweigen von Stalingrad oder - im speziellen Fall von Alexander Kluge - Halberstadt. Dort wurde der am vergangenen Samstag in Darmstadt mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete Schriftsteller, Filmemacher, Interviewer, Medienpolitiker, Jurist, ausgebildete Kirchenmusiker und Apologet der Kritischen Theorie im Jahre 1932 geboren; im Alter von 13 erlebte er einen Bombenangriff auf die Heimatstadt. Mit kindlichem Ernst hielt er es 1945 für vollkommen ausgeschlossen, dass er selbst getroffen werden könnte. Seine größte Sorge galt der Frage, ob die Klavierstunde am Nachmittag denn stattfinden würde. Kluge bezeichnete eine solche naive Fiktion des glücklichen Ausgangs in seiner Büchner-Preis-Rede als "Antirealismus des Gefühls": Gegen alle katastrophische Evidenz halten die Menschen am "Urvertrauen" fest, der "Eigensinn" setzt sich in ihnen gegen das augenscheinlich Zerstörerische zur Wehr. Diese Eigenschaft ist jedem Menschen eingepflanzt. Sie bildet die Antriebsfeder im Werk Kluges.

Betrachtet man die im Namen Büchners in den letzten Jahren geehrten Autoren, fällt Kluge als nicht unbedingt lupenreiner Schriftsteller ein wenig aus dem Rahmen. Eine glücklichere Wahl aber hätte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung kaum treffen können, erweitert sie doch so das Spektrum preiswürdiger Künstler enorm. Kluge ist ein sich verschiedene Formen aneignendes Mediengenie, ein kühner Denker und Stilist, dessen anekdotenhaften Erzählungen und Novellen immer auch etwas Sprödes anhaftet. Kein künstlerisches Werk begleitet das gesellschaftliche Geschehen mit solcher Prägnanz und analytischen Schärfe. Als 1964 sein Buch "Schlachtbeschreibung" erschien, nannte ihn Hans Magnus Enzensberger einen "herzlosen Schriftsteller" und meinte das durchaus lobend. In kühler und nüchterner Form verfolgt er sein enzyklopädisches Projekt einer Erkundung der Gefühle zur Präzisierung eines Zustands.

Die Kühle verwandelt sich schlagartig in Wärme, wenn man Kluges Stimme hört. Ihr und ihrem Timbre aus "Freundlichkeit und Genauigkeit" widmete Laudator Jan Philipp Reemtsma zunächst seine Aufmerksamkeit, um sich schließlich der "reflektierenden Prosa" Kluges gattungstheoretisch zu nähern - und eine eigene "Gattung Kluge" auszumachen. In ihr würden Dokumente, Reflexionen, fiktive Rede und Bilder zu einer "komplexen Einheit arrangiert". Etwas von dieser Tätigkeit des Arrangierens, aber auch vom allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Sprechen konnte man bei Kluges Rede miterleben: Erzählungen, eingeschobene Fußnoten, ein aufklärerischer Habitus, geduldige Erläuterungen vereinten sich zu einem eindrucksvollen, eigenwilligen, teils improvisierten Vortrag, der von dieser "polypräsenten" Stimme getragen wurde.

Alexander Kluges Literatur ist eine der Kontingenz, seine Geschichten entstehen an historischen Bruchstellen, entzünden sich an den großen Menschheitskatastrophen. Dem Unglück wird immer wieder die Möglichkeit des Glücks entgegengestellt, gegen alle historischen Wahrheiten und Wahrscheinlichkeiten. Die Fantasie des Menschen, so Kluge in Darmstadt, verbindet ihn mit "dem Konjunktiv und dem Optativ", mit der Möglichkeitsform und der Wunschform. Kluge begreift sich als "Homo compensator", als jemand, der das Gleichgewicht sucht.

Im Konjunktiv und Optativ leben die Poeten, ihre Texte lassen "Erzählräume" entstehen. Die Dichter seien dazu da, "Wohnungen unserer Erfahrung" zu bauen - jedenfalls "bewohnbar zu halten". Um dieses Gefühl des Behaustseins geht es; Bücher spielen dabei die zentrale Rolle. Kluge bewegte sich in seiner Rede durch die zentrale Begriffswelt seines Schreibens und Denkens, näherte sich den gravitativen Feldern des Werks Büchners, bei dem - wie bei Kluge auch - wissenschaftliches und poetisches Interesse in eins geraten sei, erstattete "eine Art Erfahrungsbericht als Autor meiner Zeit" und erklärte seine "Zuneigung zu Büchern überhaupt". Bücher seien "Netzwerke" über die Zeiten hinweg - "notwendiges Überlebensmittel". Die Erzählräume werden von der "Gravitation wirklicher Verhältnisse" beeinflusst. Die Autoren reagieren auf Erschütterungen "als professionelle Seismographen". Ihr Messinstrument sei das "Ahnungsvermögen". Georg Büchner habe als erster mit größter Präzision diese Instrumente angewandt. "Das ist das, was ich modern nenne." Als jemand, der "Erfahrungsbeben" messe, trage der Autor zur Lebenserfahrung des Menschen bei; er hilft deren "Ahnungsvermögen" anzuregen, dass alles auch anders ausgehen könnte.

Absolut modern zu sein, heißt für Kluge, das Verhältnis zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Seelenleben und den Menetekeln der Gegenwart - ob 11.9. oder "asymmetrische Kriege" - immer von Neuem auszuloten. Die Erzählräume müssen auf diese Verhältnisse hin überprüft werden. Die Dichter gehen dabei über die Jahrhunderte hinweg Bündnisse ein; sie korrespondieren miteinander. Hofmannsthal fand dafür einmal eine schöne Sentenz: "Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer schon zehntausend Tote mit." Diese Bündnisse, schloss Kluge seine Rede mit einem Glaubensbekenntnis, "bilden die Mehrheit, an die in unserer zweiten Welt der Nacherzählung ich innig glaube, weshalb ich Bücher für eine Gottesgabe halte und für die Schlüssel zu einer Öffentlichkeit, an der wir, möglicherweise ohne es zu wissen, längst gemeinsam arbeiten."

Ein anderer Preisträger dieses Tages dockt sich ebenfalls mit großer Begeisterung an solche Bündnisse an. Mit dem Freiburger Privatgelehrten Klaus Theweleit, der am Samstag den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay erhielt, verbindet Alexander Kluge neben der Affinität zum Dichter Heiner Müller eine ähnliche Umgangsweise mit dem unbändigen Material - das nicht nur aus Schrift, sondern auch aus Bildern und Musik besteht - sowie die Auffassung, dass die Trennlinie zwischen Science und Fiction äußerst durchlässig ist. Der Adornit Kluge ist einer, der mit seinen Themen 1968 bereits vorweggenommen hat. Theweleit ist ein waschechter 68er, der in seinen Schriften Freud, Kritische Theorie, Poststrukturalismus und Rock'n'Roll zusammenführt und aus diesen Ingredienzen einen eigenen Sound mixt. In seiner Dankrede spannte Klaus Theweleit am Lebensschicksal des Namensgebers seines Preises das ganze Drama der Koppelung von individueller Existenz mit politischen Großereignissen auf - auch ein Thema Kluges. Theweleit plädierte für das Einreißen der Grenzen zwischen verschiedenen Genres und die Aufhebung "überkommener Autor-Klassifizierungen": "Die Kritiker wissen es also auch nicht, welche Sorte Autor sie an mir haben." Und das ist freilich gar nicht schlimm.

Dass mit dem Sigmund-Freud-Preis ein Altertumswissenschaftler geehrt wurde, der es mit der strengen wissenschaftlichen Prosa und der Trennung der Genres dagegen sehr ernst meint, zeigte die akademische Dankrede von Walter Burkert. Was alle drei Preisträger auszeichnet? Der schwungvolle Akademiepräsident Klaus Reichert, der in seiner Begrüßung einmal mehr das Unbehagen über die Rechtschreibreform zum Ausdruck brachte, fasste es so zusammen: "Die Aufmerksamkeit für das Verborgene."