Mühsame Standortbestimmung

Das "Handbuch Populäre Kultur" sucht nach seinem Gegenstand

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was kann und soll ein Handbuch zur Populären Kultur bieten, wenn der Herausgeber Hans-Otto Hügel in der Einleitung feststellt: "Populäre Kultur ist (noch) keine selbstständige Wissenschaftsdisziplin."? Sollen also die im Untertitel angekündigten "Begriffe, Theorien und Diskussionen" Beiträge zu dieser Disziplin sein? Ihr Gegenstand ist das Populäre, das mittlerweile nahezu sämtliche Erscheinungen des kulturellen Lebens beeinflusst, sie in einem kreativen Sinne verändert oder sogar eigene neue Phänomene, wie z. B. die Popmusik schafft. Nebenbei: Popmusik ist kein Stichwort in diesem Handbuch.

"Populäre Kultur macht Spaß". Der Spaß als Definitionskriterium rückt die Populäre Kultur in die Nähe zur Unterhaltung. Spaß- und Unterhaltungsfaktorfaktor bedingen eine eigene ästhetische Qualität und Funktion der Erscheinungen Populärer Kultur, die sie unterscheidbar machen von der Alltagskultur. An diesem Punkt behauptet das Handbuch Eigenständigkeit gegenüber der angelsächsischen Tradition der Cultural Studies, die ihren Schwerpunkt auf die soziologische Analyse der auch die populären Erscheinungen umfassenden Alltagskultur setzt. Trotzdem kann das Handbuch auf die Vorarbeiten und die zentralen Begriffe der Cultural Studies ebensowenig verzichten wie auf die Erkenntnisse anderer kultursoziologischer Unterdisziplinen wie Alltagsoziologie, Jugendsoziologie, Kunstsoziologie u. a. m.

Das Populäre in der Kultur ist eine junge Erscheinung. Erst die Bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts schafft die Voraussetzungen, ,ins Gespräch zu bringen', was als Populäre Kultur zu beschreiben ist. So wird das Jahr 1853 zu ihrer Geburtsstunde. Erstmals erschien die Familienzeitschrift "Gartenlaube": "Ihr Erscheinen am 1.1.1853," heißt es in der Einleitung, "gibt daher ein alle wichtigen sozialen, technischen, wirtschaftlichen und politischen Fakten berücksichtigendes Datum ab, hinter das für die Entstehung der Populären Kultur in Deutschland zurückzugehen, meiner Meinung nach nicht ratsam ist."

Seitdem schreitet die Popularisierung des Kulturellen voran. Nicht ohne emanzipatorischen Effekt, denn die neue Freiheit zur Rezeption erfasst auch die ,alte' Hochkultur. Ihre Angebote werden vom elitären Sockel gestoßen und können selber populär werden. Doch bedeutet diese Durchmischung der Kultur nicht den Verlust eines Kunstbegriffs: "Die Differenz zwischen der Kunst und dem Populären ist immer noch konstitutiv für unsere Kultur." Wenn es aber neben Spaß und Unterhaltung noch Aspekte wie Ernsthaftigkeit, Zumutung, Innovation, Grenzen ausloten u. a. gibt, dann sind die sozialen und ästhetischen Funktionen von Kunst und Kultur nicht gleich zu setzen. Hier öffnet sich ein Feld für die Wissenschaft, wenn sie zu erkunden sucht, wie beide Bereiche zusammenwirken. So bedarf es beispielsweise einer speziellen "Hermeneutik des Populären": "Wir brauchen eine Hermeneutik populärer Texte, die die Lesewirkung nicht nur im sozialen Außen [...] sieht, sondern auch im geistig Inneren begreifbar macht." Was gemeint ist, mag man am Beispiel der Wirkung von Popsongs nachprüfen: sie wirken auf Bewusstsein und Empfindung erst in der Kombination von Text und Musik. Die individuellen Stimmungen und Erlebniswelten, die durch dieses Miteinander eröffnet werden, gehen weit über das rationale ,Verstehen' des Textes hinaus. Ja sie zerlegen den Text regelrecht, wenn beispielsweise Textpassagen nur in einer ganz speziellen musikalischen Umsetzung (Riffs) ,verstanden' werden. Trotzdem kann auch in dieser bruchstückhaften Wahrnehmung die ,Botschaft', das ,Feeling' eines Songs vollständig wahrgenommen werden.

Der lexikalische Teil des Handbuchs ist in zwei Abteilungen aufgeteilt. In einem erstenTeil werden "Konzepte der Populären Kultur" erläutert. Unklar bleibt allerdings in nahezu allen Artikeln, was nun die vor allem aus der Soziologie bekannten Unterbereiche, wie z. B. Alltagskultur; Freizeitkultur; Jugendkultur; Subkultur; Unterhaltung; Kulturindustrie; Massenkultur zu eigenständigen Konzepten der Populären Kultur macht. Das mindert nicht die Qualität der einzelnen Artikel, die durchweg kompetent und anregend ihr Themenfeld bearbeiten. Worin das grundsätzliche Dilemma besteht, lässt sich am Beispiel des Artikels "Unterhaltung" zeigen. Anschaulich beschreibt der Artikel Erscheinungsformen von Unterhaltung, doch kommen diese allesamt aus Spezialgebieten, wie Literatur, Film, Soziologie, Ästhetik - will sagen: was ist der Aspekt, der sie zu einem "Konzept der Populären Kultur" macht? Am Ende ist es doch ,nur', was der Autor des informativen Artikels "Volkskultur" anführt: "Wenn also von Volkskultur als Teil einer Populären Kultur die Rede, dann geht es um den Blick von außen, um die Entdeckung der Volkskultur, mithin um die Frage danach, seit wann, warum und wie sich das Interesse an Volkskultur in der Moderne artikuliert." Durchaus, möchte man meinen, aber das ist kein eigenständiges "Konzept der Populären Kultur".

Im zweiten Teil folgen "Grundbegriffe". Unklar bleibt, wieso die eingangs vorgestellte Systematik aufgegeben wird. Dort werden neben dem Feld der Grundbegriffe noch weitere Felder wie "Distributionsmedien", "Orte", "Geräte", "Sparten" oder "Erzählweisen" genannt. So unterschiedliche Stichworte wie "Kleinbildkamera", "Kino", "Held", "Schallplatte/CD", Sammler", "Freizeitpark", "Kitsch" wären sinnvoll einzuordnen gewesen, während sie nun alle in alphabetischer Reihenfolge unter "Grundbegriffe" aufgeführt werden. So geht der differenzierte analytische Ansatz im schlichten Lexikon unter. Es bleibt dem Geschick der Autoren überlassen, ob und wie sie einen jeweils eigenen populär-kulturellen Bezugspunkt in ihren Artikeln benennen und analysieren. Im Artikel "Theater" erläutert der Autor es so: "Im Zusammenhang der Populären Kultur gilt es bei diesem Lemma, der Tradition des Unterhaltungstheaters nachzugehen." Warum nicht Volkstheater? Gleich darauf folgt ein Stichwort, das unmittelbar auf das Wesen der Populären Kultur verweist, wie es auch das Erkenntnisinteresse der Wissenschaft von der Populären Kultur anzudeuten vermag - "Theatralität": "Populäre Kultur bedient sich der Theatralität. Theatralität bedient sich der Populären Kultur." Man denke nur an die theatralischen Inszenierungen aktueller Politik.

Titelbild

Hans-Otto Hügel (Hg.): Handbuch Populäre Kultur.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2003.
580 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-10: 3476017591

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