Solide Schandmaulkompetenz

Nicolaus Sombart entblößt sich immer unbekümmerter

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Man braucht im Alter keinen Mut mehr, um in Fettnäpfchen zu treten, weil man nicht mehr genug Zukunft hat, um wiedergetreten werden zu können." Diese Erkenntnis des Philosophen Odo Marquard lässt sich kaum besser veranschaulichen als durch das jüngst erschienene "Journal intime 1982/83" des inzwischen achtzigjährigen Nicolaus Sombart. Was Marquard "solide Schandmaulkompetenz" nennt, durchzieht Sombarts Tagebuch von der ersten bis zur letzten Seite: rücksichtsloser Nonkonformismus, gepaart mit schamloser Offenheit. Und auch Odo Marquard gehört zu den vielen, die in diesem Journal verhöhnt werden.

Über 30 Jahre lang war Nicolaus Sombart als braver Beamter beim Europarat in Straßburg tätig, zuletzt als Leiter der Kulturabteilung. Mit knapp 60 Jahren kehrt er 1982 als Fellow des Wissenschaftskollegs in seine Heimatstadt Berlin zurück. Hier beginnt, so legen die Aufzeichnungen dieses Tagebuchs nahe, die frivolste und zugleich schönste Episode seines Lebens. Den Ruf an das Wissenschaftskolleg erhält der durchgeistigte Salonlöwe, um ein Buch über Wilhelm II. zu verfassen - einer Figur, der er nicht ohne hochherrschaftliche Sympathie gegenübersteht. Bei der Ankunft erstaunt ihn, wie üppig das Kolleg ausgestattet ist: Was in Straßburg als Kulturbudget für 23 Staaten reichen muss, ist in Berlin für 25 Fellows gut. Doch statt die luxuriöse Begegnungsstätte zum Ideenaustausch zu nutzen, sondert sich der "Kultursoziologe" von den anderen Fellows ab. Der Sohn des berühmten Sozialökonomen Werner Sombart schwelgt in Erinnerungen an seine großbürgerliche Jugend, pflegt die eitle Selbstinszenierung und erlebt unzählige erotische Abenteuer mit unzähligen Prostituierten.

Für den Leser besteht der Reiz dieser frivolen Bekenntnisse vor allem darin, Zeuge eines Dandytums zu werden, das weder zu unserer Zeit noch in unser Land zu passen scheint. Man fühlt sich ins Fin de siècle zurückversetzt, wenn sich Sombart ganz ungeschminkt als elitärer Privatgelehrter, hedonistischer Erotomane und mondäner Wichtigtuer outet. Mal ironisch, mal melancholisch schildert er Begegnungen mit prominenten Zeitgenossen wie Nike Wagner, Bazon Brock, Peter Coulmas, Thilo Koch oder Michael Krüger. Bisweilen finden sich auch gnadenlos selbstkritische Reflexionen - etwa als sich Sombart mit dem Germanisten Peter Wapnewski vergleicht, den er zu jenen Menschen zählt, "die aus einer ganz kleinen Begabung ein Optimum herausgewirtschaftet haben. Er hat mit seinem Pfunde gewuchert. Während ich genau am anderen Pole stehe, der ich, mit einer verschwenderischen Vielfalt von Talenten ausgestattet, es zu nichts gebracht habe." Stets im Hintergrund bleibt der diskrete, aber offenkundig großzügige Gönner Hubert Burda. Zu Sombarts Sechzigsten finanziert der Verleger eine dekadente Soirée in einem Grunewalder Schlosshotel, bei der gar Wilhelm II. als leibhaftiger Redner erscheint.

Da es im Berlin der achtziger Jahre nicht mehr so viele Salons gibt, wie Sombart zu seinem Zeitvertreib benötigt, funktioniert er das Szenerestaurant "Paris Bar" zu einer Art zweiten Wohnzimmers um. Hier ist er beinahe täglich anzutreffen, denn auf dieser Bühne kann er nach Herzenslust sehen und gesehen werden. Schon bald widerfährt ihm hier aber auch die schlimmste Kränkung, die jemand einem derart auf äußerliche Wirkung bedachten Menschen zufügen kann. Ein anderer Gast wagt es, mit ähnlicher Eleganz aufzutreten und löst damit einen Hahnenkampf aus. Sombart muss sein Revier verteidigen: "Er hatte die Keckheit, einen roten Schal, ähnlich dem meinen, um den Hals zu tragen. Allerdings eine Nummer kleiner. Ich hatte Lust, in Keyserling'scher Manier, ihm das unbefugte Tragen superiorer Kleidungsstücke zu untersagen, ihm den Fetzen kurzerhand vom Hals zu reißen."

Szenen wie diese führen geradewegs in das psychische Zentrum des Autors. Denn Nicolaus Sombart ist bislang vor allem durch die Aura aufgefallen, die er um sich herum zu verbreiten weiß - nicht nur bei seinen spektakulären Salonauftritten. Vor diesem Journal geschah dies bereits in drei weiteren Erinnerungsbüchern: "Jugend in Berlin 1933-43" (1986), "Pariser Lehrjahre 1951-54. Leçons de Sociologie" (1994) und "Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945-51" (2000). Angesichts der vielen brisanten Stellen seines jüngsten Journals verwundert es nicht, dass sich keiner der großen etablierten Verlage mehr bereit erklären wollte, ein derart exhibitionistisches Dokument zu veröffentlichen. Dafür hat der kleine Berliner Elfenbein Verlag eine besonders schöne Ausgabe gestaltet, die der Eitelkeit seines Verfassers nur zuträglich sein wird.

"La vie est un roman" - so lautet das schriftstellerische Programm Nicolaus Sombarts. Seine Erinnerungen wollen eine private Identitätssuche reflektieren und demgemäß irgendwo zwischen Literatur und Zeitgeschichte angesiedelt sein. Obwohl der Autor Gründungsmitglied der Gruppe 47 ist und später auch in den PEN-Club aufgenommen wurde, muss an dieser Stelle ein Einwand erlaubt sein: Sombart ist bei allem, was er tut und schreibt, vorrangig um seine Aura bemüht - doch er ist kein Literat, kein Geschichtenerzähler. Und das Leben, so wie dieses Journal es schildert, ist noch lange kein Roman.

Titelbild

Nicolaus Sombart: Journal intime 1982/83. Rückkehr nach Berlin.
Elfenbein Verlag, Berlin 2003.
212 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3932245601

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